Seinen großen Geburtstag hatte Paul Gerhardt 2007: Da feierten einige Städte im Land ganz groß den 400. Geburtstag des Barockdichters. Allen voran Gräfenhainichen, wo klein Paul in einer Gastwirts- und Bürgermeisterfamilie geboren wurde. Sein Geburtshaus steht nicht mehr. Dafür gibt es seit 2007 eine Paul-Gerhardt-Gedenkstätte.

Wilma Deißner war für Gräfenhainichen die zentrale Gestalt, um schon von der Jahrtausendwende an das große Paul-Gerhardt-Jubiläum vorzubereiten. Kleine Städte wie die 12.000-Einwohner-Stadt in Sachsen-Anhalt leben von solchen Höhepunkten. Und in diesem Fall ist Paul Gerhardt wirklich der einzige Bürger der Stadt, der es wirklich zu nachhaltigem und überregionalem Ruhm gebracht hat.

Und Wilma Deißner ist natürlich diejenige, die mit viel Gefühl über diesen Mann schreiben kann, der im nahen Wittenberg Theologie studierte, bevor es ihn nach Berlin verschlug. Die Autorin erklärt ihn gern zum berühmtesten Dichter seiner Zeit. Da geht der Überschwang ein wenig mit ihr durch. Aber ein gutes Argument ist natürlich: Seine Texte stehen heute noch in den evangelischen Gesangsbüchern. Auch Johann Sebastian Bach hat Texte von Gerhardt verarbeitet, weil ihm dieser Dichter in seiner Innigkeit, aber auch in seiner Betroffenheit nahe war.

Eine Betroffenheit, die natürlich von Gerhardts Leben geprägt war. Als er gerade einmal elf Jahre alt war, brach der Dreißigjährige Krieg aus, der seine Schul- und Studienzeit genauso überschattete wie seine Arbeit als Seelsorger in Berlin und Mittenwalde. Es ist seine erste Berliner Zeit, in der er die ersten jener Lieder schrieb, die ihn bis heute berühmt gemacht haben und die die Trostlosigkeit der von Krieg und Seuchen geprägten Zeit einfingen und in eine durchaus auch für das orthodoxe Luthertum ungewohnten Innigkeit fassten.

Eine Innigkeit, die auch verständlicher wird, wenn man weiß, wie lang zu seiner Zeit der Weg war vom absolvierten Studium bis zum Erreichen einer Anstellung, die auch das Ernähren einer Familie ermöglichte. Das schaffte Paul Gerhardt erst, als er 1651 Pfarrer in Mittenwalde  wurde. Erst jetzt konnte er heiraten und eine Familie gründen. Und er erlebte, was auch Bach später erlebte: wie schnell man die sehnlichst erwarteten Kinder wieder verlor. Wirklich gesichert scheint seine Existenz erst dann gewesen zu sein, als er 1657 zum zweiten Diakon der Nikolaikirche in Berlin berufen wurde, nicht ahnend, dass der Kurfürst wenig später alle Geistlichen aus dem Amt heben will, die nicht sein Toleranzedikt zwischen Lutheranern und Reformierten unterzeichnen. Gerhardt unterzeichnete nicht. Sein strenger lutherischer Glaube ist ihm nicht verhandelbar. Und obwohl die Gemeinde hinter ihm steht, verzichtet er lieber auf Amt und Einkünfte.

Erwartet man das von so einem Mann? Eigentlich ja. Auch wenn das nicht das Ende seiner Tragik ist, denn im Folgejahr verliert er seine geliebte Frau. Am Ende findet er noch einmal eine Anstellung in Lübben, das damals noch in Kursachsen lag und damit außerhalb des Machtbereiches der Brandenburger. Im Testament an seinen einzigen ihn überlebenden Sohn schreibt er unter anderem: “den Geiz fleuch wie die Hölle, lass dir genügen an dem, was du mit Ehren und gutem Gewissen erworben hast, ob es gleich nicht allzu viel ist.”

Man ahnt, warum er auch dem Brandenburgischen Fürsten nicht zu Kreuze kroch. Und seine Lieder leben von dieser tiefen Grundanständigkeit, die man auch leicht mit Sturheit verwechseln kann. Dabei ist es genau jenes Stück Aufrichtigkeit, das eigentlich auch Luther bewegt hat (und zeitweise in tiefste Gewissenskonflikte stürzte). Und die so aktuell wie notwendig wirkt in unserer Zeit. Als wäre diese Bescheidenheit, diese Bereitschaft, auf Reichtum und Karriere zu verzichten, wenn man dafür seine moralischen Grundsätze verraten muss, verschwunden. Aber das ist so wohl nicht. Es gibt nur nicht mehr so viele Paul Gerhardts, die davon noch aus tiefster Überzeugung reden und dichten und sich von der Kanzel an Gemeinden wenden, die noch offen sind für solche Appelle, eben nicht zu verzagen und sich auch nicht klein zu machen – in Gerhardts Fall natürlich immer vor Gott, einem Gott, der alles gegeben hat.

Mit Gräfenhainichen, Grimma, Wittenberg, Berlin, Mittenwalde und Lübben gibt es heute klar benennbare Stationen aus Gerhardts Leben, die man auch bereisen kann. Man kann sich seine Lieder auch als Buch kaufen. In diesem kleinen Mini aus dem Buchverlag für die Frau sind einige Texte zitiert, grundieren also die Annäherung an den Dichter und seine Lebensstationen. Christian Bunners, Ehren-Präsident der Paul-Gerhardt-Gesellschaft, versucht in seinem emotionalen Vorwort auch zu erklären, warum der Dichter bis heute lebt. Natürlich ist das Büchlein auch eine stille Einladung, mal nach Gräfenhainichen zu fahren, die Paul-Gerhardt-Gedenkstätte zu besuchen oder sich von Wilma Deißner auf den Spuren des jungen Paul Gerhardt durch die Stadt führen zu lassen.

Wilma Deißner Paul Gerhardt, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2016, 4,95 Euro.

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