Es ist eine enorme Fleißarbeit, die Lutz Heydick nun auch mit diesem Band vorgelegt hat, der direkt an den 2014 erschienenen Band zum Landkreis Leipzig anschließt. In diesem Band porträtiert er die Städte und Dörfer des Landkreises Nordsachsen. Nordsachsen? Ist das überhaupt von Interesse? Ab Seite 12 weiß man, dass sich die Frage erübrigt.
Lutz Heydick geht zwar alphabetisch vor, wenn er die 30 Gemeinden im Landkreis nördlich von Leipzig beschreibt. Aber er steigt natürlich mit dem dicksten Kraftpaket ein: mit Torgau. Und das ist nicht nur Kreisstadt, das zeigt auch mit seiner Altstadt und Schloss Hartenfels, dass hier Jahrhunderte lang richtig Geschichte gemacht wurde. Eigentlich Jahrtausende. Denn Nordsachsen – das ist historisches Siedelgebiet. Hier blühte die Zivilisation schon, als der größte Teil Sachsens noch von dichten Wäldern bedeckt war. Funde aus der Jungsteinzeit findet man von der berühmten Lommatzscher Pflege (zu der der gesamte Oschatzer Teil im Osten des Landkreises gehört) bis nach Schkeuditz. Die Menschen siedelten sich in Nähe der großen Flüsse an. Elbe und Vereinigte Mulde kommen sogar im Wappen des Landkreises vor. Wer hier unterwegs ist, der ist mitten in ganzen Geschichtswelten unterwegs, trifft auf alte Hügelgräber, Flucht- und Wasserburgen, alte Burgwarde und alte slawische Verteidigungsanlagen.
Lutz Heydick kann gar nicht anders: Er muss die ganze geballte Geschichte miterzählen.
Und er wird nicht der Letzte sein, der das tut. Und tun muss. Denn diese Landschaft ist völlig im Schatten verschwunden. Viele Leute, die glaubten, alles neu machen zu müssen, haben das Land hinter bunten Marketingphrasen verschwinden lassen. Auch in der touristischen Vermarktung hat es keine Konturen mehr.
Obwohl hier Magnetthemen angesiedelt sind, mit denen man nicht nur punkten, sondern wuchern könnte. Denn hier ist nicht nur Lutherland. Und zwar echtes Lutherland. Denn als die Reformation in Wittenberg geistig vorbereitet wurde, war hier das eigentliche Machtzentrum des ernestinischen Sachsen. In Torgau wurde die Zeitenwende politisch gestaltet. Hier war die Residenz von Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen, hier hatte der wichtige Kanzler Spalatin sein Haus. Hier sagte der weise Friedrich, als er von den Kurfürsten des Reiches im ersten Wahlgang zum Kaiser gewählt wurde: „Och nee, lieber nicht.“ Was vielleicht nicht ganz weise war, weil damit wieder die Habsburger zum Zug kamen und auch Luther richtig Ärger machten.
Aber manchmal ist es auch weise, nicht zu viel zu wollen. Denn dass seine Hausmacht vielleicht nicht reichen könnte, um ein starker Kaiser zu sein, das ahnte dieser Friedrich wohl. Und es wurde 1547 sichtbar, als der Schmalkaldische Bund eine Niederlage einsteckte. Womit die Ernestiner nicht nur die Kurwürde verloren an die Albertiner (die lieber mit dem Kaiser zusammen gekämpft hatten) und ihre prächtige Residenzstadt gleich noch dazu.
Es ist so etwas, was Stefan Zweig eine „Sternstunde der Geschichte“ genannt hätte: Denn wären die Dinge anders gelaufen, hieße die heutige Hauptstadt von Sachsen nicht Dresden, sondern Torgau. Torgau war im frühen 16. Jahrhundert die Stadt, die sich zur weit ausstrahlenden Residenzstadt gemausert hatte. Erst mit dieser Niederlage von 1547 verlagerte sich das Machtzentrum. Von der Pracht zehrt Torgau bis heute.
Und es ist nicht der einzige Ort im Landkreis Nordsachsen, an dem wichtige Ereignisse der sächsischen Geschichte stattfanden.
Eilenburg wird bis heute als die eigentliche Wiege der Markgrafschaft Meißen gefeiert. Denn hier haben die Wettiner mal klein angefangen. Und auch sie erlebten, an welch dünnen Haaren Geschichte zuweilen hängt. Denn beinah wäre ja das Geschlecht des Wiprecht von Groitzsch das große sächsische Fürstengeschlecht geworden. Da mussten auch die Wettiner sich erst Verbündete suchen, um die schöne Mark Meißen wiederzubekommen.
Delitzsch darf man natürlich ebenfalls nicht verpassen, auch das einst eine beliebte Residenz. Das Schloss in seiner Schönheit ist hier zu besichtigen.
Was heute nach Kleinstadt klingt – egal, ob Oschatz, Düben oder Schildau – das ist zumeist in seiner Substanz noch echte stolze Bürger- und Handelsstadt. Zu besichtigen in einer Vielzahl prächtiger Renaissance-Rathäuser (in Belgern steht sogar noch der Roland am Rathaus), in beeindruckenden Kirchen und da und dort in Resten einstiger Stadtbefestigungen. Es ist Lutherland, Markgrafenland, Bürgerland. Was nicht ausschließt, dass auch hier die Schlösser prächtig auf alten Rittergütern stehen. Manche vollgepackt mit eigener Geschichte – wie das fürstliche Hubertusburg bei Wermsdorf, wo der Hubertusburger Frieden geschlossen wurde.
Andere sind an der Hybris der Neuzeit gescheitert und heute – wie Schönwölkau – auf bestem Weg, zur Ruine zu werden.
Und natürlich gab es hier mehrere große Schlachten – vom Mittelalter über den Dreißigjährigen Krieg (an den heute lieber mit einer Biermarke aus Krostitz erinnert wird) bis zum Siebenjährigen. Und dann ist da dieses dramatische Jahr 1815, als das Königreich Sachsen seinen kompletten Norden verlor – darunter zählten dann auch Teile des heutigen Landkreises Nordsachsen, die für Jahrzehnte preußisch wurden.
Natürlich beschäftigt sich Heydick nicht nur mit den Städten, die alle ihre große Geschichte auch zeigen. Oder zumindest zeigen können, wo es mal war, wenn man an Taucha denkt, das einst als Stadt genauso eine Konkurrenzgründung zur wettinischen Marktgründung Leipzig war wie die Stadt Zwenkau. Auch das hätte anders ausgehen können. Dann wäre vielleicht Taucha die große Messestadt geworden. Gerade weil Lutz Heydick alle diese Daten und Entwicklungen kurz und prägnant mitgibt, bekommt man beim Blättern ein sehr verwirrendes Gefühl, wie viele Abzweige und Verästelungen die Geschichte hätte nehmen können. Und nur weil wir das Ganze aus der Perspektive der Gegenwart sehen, erscheint Geschichte als „logisch“. Aber sie ist nie logisch, sondern ist ein labiles Gebilde, in dem schon leichte Gewichtsverlagerungen dafür sorgen können, dass sich Dinge ganz anders entwickeln. Man denke nur an das Eingreifen Gustav Adolfs in den Krieg, der damals noch kein 30-jähriger, sondern erst ein 12-jähriger war und binnen weniger Jahre wohl mit dem umfassenden Sieg der Kaiserlichen geendet hätte. Mit der Folge, dass wohl Deutschland wieder komplett katholisch geworden wäre. Es waren die schwedischen Siege von Breitenfeld und Lützen, die das verhinderten.
Genauso, wie es die Friedliche Revolution war, die so nebenbei auch die Devastierung Dutzender Dörfer im Leipziger Norden verhinderte. Delitzsch wäre sonst zur Inselstadt geworden. Man kann es sich kaum vorstellen.
Und nun, könnte man fragen? Wie weiter mit dieser Region, die schon im zehnten Jahrhundert im Zentrum der deutschen Geschichte stand, viel früher als das heute so berühmte Leipzig. Heydicks Buch macht eigentlich erst einmal in aller Fülle sichtbar, wie reich diese Landschaft (trotz ihrer für sächsische Verhältnisse dünneren Besiedlung) heute noch ist. Es zeigt auch, was die üblichen Tourismusprospekte nicht zeigen, die in ihrer Marketing-Verliebtheit vergessen, dass solche Landschaften nicht attraktiv sind, weil man hier den üblichen Spaß wie überall findet, sondern markante Zeitzeugen einer tatsächlich spannenden Geschichte. Sichtlich leidet dieser Landkreis noch viel stärker als die im Hype versunkene Stadt Leipzig unter der Gleichmacherei der modernen Landschaftsvermarktung. Das hat dieser historische Flecken Erde nicht verdient, egal, ob man ihn Lutherland oder Keimzelle Sachsens nennt. Was ja kaum einer tut.
Deswegen kann man dieses Buch eigentlich nur empfehlen, mit dem Lutz Heydick kompakt und übersichtlich zeigt, was alles da ist auch an erlebbarer Geschichte. Die Touren kann man sich ja dann selbst zusammenstellen. Und die wichtigsten Punkte erreicht man problemlos mit der S-Bahn. Und man wird bestätigt sehen, dass Leipzig wie kaum eine andere Großstadt ein reiches und faszinierendes Hinterland hat. Im Süden genauso wie hier im Norden. Man muss nur mal wieder die Zeit haben, hinzufahren, was da und dort natürlich auch wie eine Zeitreise ist. Zum Beispiel in die Zeit, in der Leipzig seine berühmten Landsberger Pfähle bekam. Denn diese Ecke von Sachsen war ja mal Kern der Markgrafschaft Landsberg, benannt nach der alten Stammburg, die heute dicht nebenan im Saalekreis liegt. Aber da hat man schon das nächste dünne Haar der Geschichte, denn die Mark Landsberg wurde im 13. Jahrhundert an die brandenburgischen Askanier verkauft. Da wäre Leipzig beinah schon brandenburgisch geworden. Dann hätte es heute einen Bären im Wappen und keinen Löwen.
Geschichte ist ein ganz großes Spiel, in dem eine Menge schiefgehen kann. Und die Nachgeborenen können gar nicht mal sicher sein, ob sie nicht in einem Spielzug stecken, in dem die Sache so richtig schiefgegangen ist.
Lutz Heydick: Landkreis Nordsachsen. Historischer Führer, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2016, 28 Euro.
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