Nun ja, der Teufel kommt in diesem Buch gar nicht vor. Auch nicht der Bursche auf dem Coverbild. Auch wenn es zuweilen durchaus beรคngstigend zugeht in Jan Lindners Geschichten. Der Leipziger Autor mag das Absurde, Dรผstere, Abgedrehte. Und einige seiner Texte sind auch deftig makaber und streifen die Randbereiche des Horrors. Obwohl Lindner eigentlich eher ein ausgebuffter Romantiker ist.

Das glaubt man nicht gleich, zumindest wenn man mit der psychedelisch-abstrusen Geschichte รผber die Kaktianer und die รผber den bei der Partnersuche so grรผndlich erfolglosen Dieter eingestiegen ist in diese bunte Sammlung von Texten des studierten Philosophen und Lesebรผhnenautors. Wobei der Dieter, der Dieter heiรŸt, schon aufmerken lรคsst. Denn das Genre, in dem ein Schreiber unterwegs ist, bestimmt sich nicht durch die gewรคhlte Erzรคhlform โ€“ die ist nur Haut oder Pelz (so wie beim Teufelskostรผm auf dem Cover). Aber inwendig geht es โ€“ zumindest bei richtigen Autoren, die ihre Wortarbeit ernst nehmen โ€“ immer um ihre eigenen Gefรผhle, Sehnsรผchte, Erwartungen.

Auch bei Mรคnnern, echten Kerlen wie denen, die als โ€žEintracht Prรผgel vs. Hangover 96โ€œ in Geschichte Nr. 4 ein wildes Gezech veranstalten. Eigentlich ein frรถhliches Spiel, in dem sich die Phrasen der FuรŸballnarren mit den Phrasen der Zechbrรผder vermengen. Aber manchmal wird genau das zur groรŸen Demaskierung, erweisen sich beide Mรคnner-Domรคnen als ein organisiertes Balz- und Revierverteidigungs-Ritual.

Es ist schon erstaunlich, wie sich all diese Dinge, die man frรผher im Biologieunterricht mal als typisch tierisches Paar- und Fortpflanzungsverhalten kennengelernt hat, mit zunehmender Leseerfahrung als etwas erweisen, was die ganze menschliche Gesellschaft durchzieht. Obwohl es doch dort eigentlich nicht hingehรถren wรผrde, wenn man so dem ein oder anderen Philosophen oder Soziologen glaubt.

Aber je mehr solcher Geschichten man liest, umso erstaunter ist man, wie das funktioniert โ€“ und wie ernst es von Autoren immer noch genommen wird. Wahrscheinlich sogar zu Recht. Denn das, was unsere Gesellschaft so verwirrt, ganze Vorabendserien fรผllt, Filmhandlungen bestimmt und dicke Romane zu Bestsellern macht, ist ja irgendwie doch die Ursuppe unserer biologischen Existenz. Und macht Mรคnnlein wie Weiblein nรคrrisch in einem Reigen der immer gleichen Werbe-, Kampf- und Balzrituale. Hรคtte Jan Lindner auch noch Biologie studiert, kรถnnte er einige seiner Geschichten auch mit Meldungen direkt aus dem Hormonhaushalt unterfรผttern.

Das wird spรคtestens klar, wenn mitten im Buch die groรŸe Liebesgeschichte โ€žLeilahโ€œ aufklappt. Eine richtige, echte, weil typische Liebesgeschichte. Denn eigentlich erfรคhrt man รผber Leilah nichts, auรŸer dass sie schwarze Haare hat und ansonsten einfach ein attraktives Mรคdchen ist, das bei ihrem Auftauchen die ganze Clique, in der der Erzรคhler abhรคngt, in einen Haufen balzender Liebeskandidaten verwandelt. Aber auch im Erzรคhler selbst spielen die Hormone verrรผckt, machen ihn schlicht unfรคhig, die bewunderte Schรถne anzusprechen. Stattdessen kippt er lieber literweise Bier in sich hinein, wรคhrend in seinem Kopf die Situations-Analyse-Maschine anlรคuft, die jedes winzige Zeichen, jede Mini-Botschaft auszuwerten versucht: Hab ich nun bei Leilah eine Chance? Oder erlebe ich jetzt die Riesentragรถdie, abgewiesen zu werden?

Womit wir mitten in der Romantik wรคren. Oder um mal den satirischsten aller Romantiker, Heinrich Heine, zu zitieren: โ€žEs ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.โ€œ

Kennt jeder. Kennt auch der grรถรŸte Rabauke. Manche erleben das als regelrechte Panik und trauen sich erst gar nicht, die Angehimmelte anzusprechen. Andere spielen den Kasper, den Obermacho, den Supercoolen. Die Letzteren schreiben dann freilich keine 60 Seiten langen Geschichten drรผber, sondern prahlen lieber vor ihrer FuรŸballmannschaft rum, dass sie die Leilah auch rumgekriegt haben. Ist ja nicht so, dass sich der weibliche Teil der Menschheit rationaler benimmt als der mรคnnliche. Schon gar nicht, wo es um Hormone geht.

In diesem Fall gewinnen die Hormone. Den dramatischen Unfall, die vielen Tausend vรถllig sinnlosen Grรผbeleien und den Krankenhausaufenthalt hรคtte sich der Held also eigentlich ersparen kรถnnen. Aber das ist nun mal der Urkeim aller Romantik. Auch der literarischen. Und nicht nur Edgar Allen Poe gehรถrt zum literarischen Erbe, das bei Lindner durchschimmert, sondern auch die ganze Bande von Tieck bis Keller (der zwar gern anderswo einsortiert wird. Aber das ist das groรŸe, manchmal unverdauliche Manko des bรผrgerlichen deutschen Romans: Er trieft vor lauter romantischem Sentiment.)

In diesem Fall bekommt der Knabe sein Mรคdchen, ganz unverdient, denn die meiste Zeit war er ja vรถllig im Bierdusel.

Aber siehe oben: Das spielt รผberhaupt keine Rolle, egal, wie lange Autoren die ganzen Wenn-und-wรคre-Gedanken-Spiele seitenlang durchwรคlzen. Aber: Das gehรถrt auch zu Jan Lindner. Er ist nicht so abgebrรผht, dass ihn diese ganzen Dinge kalt lieรŸen. Deswegen schreibt er auch keine Horrorromane. Denn ihm kommt immer etwas dazwischen, was die รผblichen Horrorroman-Schreiber nicht mehr haben. Oder nicht mehr zeigen: so eine Art soziale Ader. Oder ist es gar eine vรคterliche? Denn im zweiten Teil des Buches spielen Kinder die Hauptrolle. Nicht immer eine glรผckliche.

Was dem kleinen Franklin am Kรผhlschrank passiert, das wรผnscht man wirklich keinem Kind. Aber diese kleine Horrorgeschichte schwebt auch, kรถnnte durchaus unterwegs eine vรถllig andere Wendung nehmen. So, wie auch die โ€žMatrjoschkaโ€œ-Geschichte vorher eine andere Wendung genommen hat, obwohl sie durchaus den Ansatz hatte, zu einer mรคrchenhaften Geschichte im Stil Ray Bradburys abzudriften. Keineswegs phantastisch, aber trotzdem genauso beรคngstigend geht es in โ€žMariann und der Weihnachtsmannโ€œ zu. Denn der Horror โ€“ das sind nicht die filmischen Monster im TV oder Frankensteins Monster. Obwohl ja auch dieses ein Geschรถpf der Romantik ist. Der eigentliche Horror, das sind die finsteren Lebenswelten, in denen viele Kinder aufwachsen. Auch heute noch. In diesem Fall hat es wieder mit der Unfรคhigkeit eines Mannes zu tun, Konflikte auszuhalten und ohne Alkohol zu lรถsen.

In diversen Medien wird ja gerade wieder das Lied auf die Orientierungslosigkeit des Mannes in der heutigen Welt gesungen. Aber das Lied ist natรผrlich Quatsch. Orientierungslos sind Mรคnner nur, weil sie sich immer wieder in die alten Rituale flรผchten und sich einer Beschรคftigung mit der Welt, mit sich, ihrem Leben und ihren Wertvorstellungen verweigern. Und da wir von lauter Verweigerern regiert werden (oder genรถtigt), kommt natรผrlich kein vernรผnftiges gesellschaftliches Gesprรคch mehr zustande. Man hat es nur noch mit lauter Trotzigen, Beleidigten, Empรถrten, Plรคrrenden, Wรผtenden zu tun, kleinen Jungen, die mit geballten Fรคusten in den Kostรผmen ihrer Vรคter stecken.

Und sich lieber, bevor sie anfangen, nachzudenken und in sich zu gehen, mit Arbeit, Drogen, Alkohol betรคuben.

Wie schwierig ein Zwiegesprรคch wird, wenn das eigene Ich vรถllig besoffen ist, das wird in Lindners letzter Geschichte โ€žDer kolorierte Trunkenboldโ€œ spรผrbar, auch wenn es eher ein blindes Tasten ist, eine beinah traumhafte Situation mit einer abgerissenen Gestalt im Park, die sich einer antiquierten Sprache befleiรŸigt, wie man sie aus salbungsvollen Reden des 19. Jahrhunderts kennt, auch aus etlichen dicken Romanen dieser Zeit, als Autoren und Leser eine kรผnstlich aufgeschwurbelte Sprache sogar fรผr tiefsinnig hielten (was heute bei den salbadernden GroรŸdenkern der neuen Rechten wieder Mode ist โ€“ es ist schon erstaunlich, wie dieser alte Denkermuff heute wieder feilgeboten wird wie Sauerbier). Natรผrlich kam dieser Sprachstil auch in den groรŸen Schauerromanen des 19. Jahrhunderts vor โ€“ genauso wie diese irren Szenen der verirrten Helden, die in Situationen landeten, in denen sie mit einem vรถllig fremden, pfauengefederten Alter Ego konfrontiert wurden. Am Ende solcher Reisen ins Schauerreich ist man als Leser ja zutiefst verwirrt und beginnt am eigenen Verstand zu zweifeln, obwohl ja nur der Autor durch Nebel getaumelt ist und am Ende nicht mehr wieder rauskam. So wie Arthur Gordon Pym bei Edgar Allen Poe.

Doch in diesem Fall bleibtโ€™s bei einer traumhaften Begegnung, die zumindest in die nachvollziehbare Einsicht mรผndet: โ€žKommunikation ist das Schlรผsselwort.โ€œ Das betrifft ja irgendwie auch das Zwiegesprรคch mit sich selbst. Wie ehrlich ist man da und wie sehr bereit, mit sich selbst zu mehr Klarheit zu kommen? Bier hilft da augenscheinlich nicht viel weiter und verwandelt das Gegenรผber in eine ziemlich schlappe Gestalt, die Mรผhe hat, sich zu einer einigermaรŸen klaren Botschaft aufzuraffen. Und als sie sich dann aufrafft, strรถmt sie รผber, wohl wissend, dass das โ€žGesรถffโ€œ den Sprecher wieder auf das Niveau eines Kleinkindes gebracht hat. Das hat also etwas von kindischer Unverantwortlichkeit, wenn Mรคnner sich in den Alkohol flรผchten. Da kรถnnen sie ja noch froh sein, dass Hormone die ganze Denkarbeit fรผr sie รผbernehmen. Was natรผrlich auch Jan Lindner nicht reicht, der sehr wohl weiรŸ, dass er auch fรผrs Schreiben und Leben ein nรผchternes Gegenรผber braucht. Vielleicht hat ihm auch Leilah ins Gewissen geredet, den Bierkonsum mal ein bisschen runterzufahren. Wer weiรŸ.

Und was bekommt der Leser also? โ€“ Im Grunde so eine Art Zwischenbilanz mit romantischen, schaurigen, aber auch nachdenklichen Geschichten. Und einen Autor, der eigentlich gern wie Edgar Allen Poe schreiben mรถchte, dieses pochende Gewissen im Kopf aber nicht los wird, diesen Burschen, der ihn zur Selbstreflexion zwingen will: Denk mal drรผber nach, Junge. Es ist dein Leben.

Jan Lindner: Auf Teufel komm Rausch, Edition Subkultur, Periplaneta, Berlin 2016, 9,99 Euro.

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