Es gibt selbst in diesen so langweiligen Zeiten Geschichten zu erzählen, wenn man denn noch Sinn für Geschichten hat in diesem Land, das an seinen Regeln und Vorschriften gerade erstickt. Aber da in der Lausitz sitzt einer, der hat noch die Wolle zum Erzählen. Und dazu gehört natürlich auch die sorbische Freiheit, die Dinge nicht so bürokratisch deutsch zu nehmen, wie sie leider oft schon sind. Seniorenresidenzen zum Beispiel.

Auf das Wort muss man erst mal kommen. Es steckt die ganze Schönfärberei der modernen Lebens-Verwaltungs-Industrie drin, dieses Aufhübschen bis zur Katalogbrillanz, in der sich das ganz normale Leben der Menschen in etwas verwandelt, was man nicht mal mit spitzen Fingern anfassen würde, wenn man über den Flohmarkt schlendert: blank geputzt, rund gelutscht, effizient wie das Piepen einer Ladenkasse.

Das klingt nur beiläufig mit an, denn in der Welt, in der Jurij Koch seine Helden ansiedelt, sind die Wege noch kurz, das Seniorenheim ist ein altes, umgebautes Schloss, einst die Residenz der Herren von Wackerbarth, im Mund der Dorfbewohner freilich nur noch Schloss Wackelbarth. Die älteren Herrschaften, die da einquartiert wurden, sind nicht – wie sonst üblich – aus der Welt, sondern sind noch Teil der Dorfgemeinschaft. Man kennt sich, erzählt sich was, trifft sich beim Spazierengehen und besucht sich. Und der alte Worreschk mit seinen riesigen Ohren gehört noch genauso zum Dorfleben wie Oma Abessinka, die so eigentlich nicht heißt, aber von allen so genannt wird, weil ihr Mann einst ein wilder Pirat in abessinischen Regionen war, wo er auch einen großen Piratenschatz verbuddelt haben soll. Natürlich unter einer Palme. Und eine Schatzkarte soll es auch geben.

Womit schon mal alle Zutaten beisammen sind für eine große Ganovengeschichte mit kleinen Detektiven und zwei großen bösen Buben. Eigentlich müsste sich der Dorfpolizist (den gibt es bei Jurij Koch tatsächlich noch – im ganzen Rest von Sachsen wurde er ja bekanntlich eingespart, weil auch der Innenminister innigst an den Gott der verschlankten Effizienz glaubt) um den Fall kümmern. Aber die beiden Jungen Golo und Logo sind sowieso bekannt dafür, dass sie jedes Rätsel zu knacken wissen. Normalerweise gibt es solche Jungen heutzutage auch nicht mehr in den Dörfern der Lausitz (weil auch die Kultusministerin an den fetten Gott der schlanken Effizienz glaubt), sie wären irgendwo in den großen Städten an speziellen Gymnasien für superschlaue Kinder.

Aber natürlich sind auch Dörfer eine Herausforderung für kluge Kinder, die vor Neugier platzen, wenn auf einmal Dinge oder Menschen verschwinden. So wie Oma Abessinka, die seltsamerweise auf einmal ins ferne Afrika gereist sein soll, vielleicht, um ihren Schatz auszubuddeln. Das mögen wohl die Erwachsenen glauben – Golo und Logo glauben es nicht und stürzen sich tatsächlich Hals über Kopf in das Abenteuer, in dem natürlich erst mal zu klären ist, ob die Nachricht stimmt: Ist Oma Abessinka, die ja nun bekanntermaßen mit Rollator unterwegs ist, tatsächlich einfach so nach Afrika geflogen?

Natürlich entpuppt sich das als Legende und die beiden cleveren Jungen kommen einer richtig gemeinen Geschichte auf die Schliche, entdecken sogar noch das verborgene Geheimnis von Schloss Wackelbarth und können natürlich am Ende klären, was aus Abessinka geworden ist. Und dabei macht es Jurij Koch natürlich spannend, auch hübsch gruselig, wie sich das für echte Detektivgeschichten gehört. Und erzählen kann er: bildhaft, knackig, in kurzen, sauberen Sätzen. Was eine Tugend geworden ist in unserer Zeit, weil kaum noch gestandene Autorinnen und Autoren wirklich für Kinder und junge Leser erzählen. Das ist eine Kunst, eine uralte und hohe. Denn so ein Erzählen ist dem Erzählen am Lagerfeuer, am Kamin, am Kachelofen verwandt. Dem Geschichtenerzählen bei flackerndem Feuer, wenn lauter Kinderohren gespitzt sind, weil Opa oder Oma es richtig spannend machen. Na gut. Meistens traut man das Opa zu, der kennt sich besser aus mit Dazuerfinden, Ausschmücken und übertreiben. Aber so eine Geschichte ist das. Eine, die die Phantasie der Leser anspricht. Immerhin kommen auch dunkle Gänge, Fledermäuse und ein paar knappe Verstecke drin vor.

Und irgendwie geht es ja auch darum, wie wichtig Geschichten im Leben sind, auch wenn sie nicht immer ganz stimmen müssen. Aber wenn am Ende alle nur noch die gleichen Geschichten erzählen oder gar keine Geschichten mehr, weil das Leben in Routinen auch noch die letzte Anregung für die Phantasie gefressen hat, dann wird das Alter natürlich zum tristen Vorhof der Hölle. So gesehen ist das Buch auch ein kleines Plädoyer, mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft anders umzugehen, als es meist üblich ist. Kann ja nicht jede Oma einen Piratenschatz geerbt haben.

Jurij Koch Abessinka, wo bist du?, Lychatz Verlag, Leipzig 2016, 9,95 Euro.

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