Die Bezeichnung „Heft“ trifft natürlich auf das, was im Sax Verlag als „Leipziger Hefte“ veröffentlicht wird, schon lange nicht mehr zu. Hefte waren es ganz zu Anfang mal, als die Reihe zu Leipziger Themen begann. Mittlerweile ist man bei Nummer 19 angelangt und das „Heft“ hat sich längst zu einem reich bebilderten 200-Seiten-Buch entwickelt. Das Thema ist natürlich sehr speziell.
Das waren auch die letzten Titel in der Reihe schon. Zuletzt war das Alte Rathaus Thema. Diesmal hat sich die Ärztin Dr. Susanne Hahn ein Thema zur Aufgabe gestellt, das ihr regelrecht in die Wiege gelegt wurde. Denn ihr Vater, Dr. Heinz Kunert, betrieb nach 1945 eine orthopädische Klinik in Leipzig – zuletzt im Haus Blumenstraße 72. Eigentlich eine namhafte Leipziger Familie. Kunerts Sohn Christian spielte als „Kuno“ in der Klaus Renft Combo mit. Das ist eine eigene Geschichte und würde in andere Strukturen des auf eigene Weise immer wieder rebellischen Leipziger Bürgertums führen.
Orthopädie ist eher das Gegenteil, ein großes Stück Fürsorge am Menschen, das aber – verglichen mit anderen medizinischen Feldern – recht jung ist. In Leipzig sogar erst seit 1806 nachweisbar, als der Geburtshelfer Johann Christian Gottfried Jörg sich genötigt sah, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn gerade als Geburtshelfer erlebte er immer wieder, wie Kinder mit körperlichen Missbildungen geboren wurden – aber es gab keinerlei Hilfsangebote, auch keine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Die Franzosen waren auf dem Gebiet schon ein halbes Jahrhundert unterwegs und hatten auch erste Erklärungen und Hilfsansätze entwickelt.
Aber Susanne Hahn beschränkt sich natürlich auf Leipzig, auch weil die Stadt zeitweilig zu einem führenden Zentrum der orthopädischen Forschung und Behandlung in Deutschland wurde, ein Kapitel, das unter Franz Ludwig Schede und seinem Einsatz für die eigenständige Orthopädische Klinik der Universität Leipzig seinen Höhepunkt erreichte. Bis dahin war der Weg aber zuweilen sehr mühsam, manchmal auch etwas beklemmend und mechanisch. Beklemmend aus heutiger Sicht, die auch stark von Freuds Untersuchungen an den Söhnen von Daniel Gottlob Moritz Schreber und den sehr deutlichen Stellungnahmen von Alice Miller geprägt ist: schwarze Erziehung.
Aber wie hilfreich ist der Blick aus heutiger Perspektive? Wird der seinerzeit verehrte Arzt Schreber dadurch zu einem brutalen Vater? Oder muss man die Perspektive ändern und herausbekommen, mit welchen Schwierigkeiten das 19. Jahrhundert rang, um überhaupt erst einmal echte Hilfsangebote für Menschen mit Behinderungen zu entwickeln? Schreber war einer der ersten Ärzte, die überhaupt erkannt hatten, dass auch und gerade das ungesunde Leben in den Städten eine Ursache dafür war, dass Kinder mit Behinderungen aufwuchsen. Oft waren Entzündungen die Ursache, fehlende oder falsche Bewegung, Überlastung des Knochenapparates in der neu aufkommenden Industrie, die auch verstärkt Kinderarbeit mit sich brachte, aber auch Mangelernährung spielte eine Rolle. Die berühmten Schrebergärten wurden ja von Ernst Innozenz Hauschild nicht so genannt, weil Schreber Blumenbeete und Lauben so toll fand, sondern weil er für die in die engen, lichtlosen Städte gesperrten Kinder kindgerechte Spiel- und Turnplätze forderte. Am Schrebermuseum in der Aachener Straße kann man so einen Platz noch sehen.
Und Moritz Schreber war auch nicht der erste Arzt, der versuchte, mit mechanischen Apparaturen die Haltung von Kindern zu korrigieren. Natürlich begegnet man ihm, wenn Susanne Hahn sich Stück für Stück durchs 19. Jahrhundert arbeitet und erzählt, wie lange es dauerte, bis die Orthopädie auch Teil der universitären Ausbildung wurde. Praktisch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Umgang mit den Fehlbildungen des Körpers eigentlich reine Privatsache. Eine entsprechende Behandlung konnten sich eigentlich nur wohlhabende Menschen leisten. Mit der Gymnastisch-orthopädischen Heilanstalt in der Zeitzer Straße 10 entstand die erste weit über Leipzig hinaus ausstrahlende Einrichtung, an der auch Schreber wirkte. Das Haus stand bis Anfang des 20. Jahrhunderts dort, wo heute der riesige Bürobau Karl-Liebknecht-Straße 10-14 steht. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass hinter dem Gebäude mal ein großer Garten lag, der natürlich auch mit zur Therapie der Patienten gehörte.
Womit man bei einem Thema wäre, das Susanne Hahn zumindest antippt, denn ein Anliegen ihres Buches ist ja auch, die Schauplätze der Leipziger Orthopädie im Stadtraum sichtbar zu machen. Fast hätte man da eigentlich so einen kleinen Stadtplan erwartet. Denn sehen kann man ja noch einiges – auch das von Schede initiierte Orthopädische Klinik-Gebäude (das heute von der Universität zu anderen Zwecken genutzt wird) oder die ehemalige Dr. Georg-Sacke-Klinik in der Prager Straße, die als neues Humanitas-Heim gegründet wurde und damit Nachfolger der ersten Einrichtung dieser Art in Eutritzsch wurde.
Natürlich ist das dann ein ganz spezieller Rundgang, der auch nicht mehr alles zeigen kann, was einst zur Entwicklungsgeschichte der Leipziger Orthopädie gehörte. Die nicht immer sonnig war. Oft genug mussten sich die engagierten Mediziner mit primitivsten Bedingungen zufrieden geben, boten ihre Hilfe sogar eher ehrenamtlich an, weil es die nötigen Planstellen in der Universität lange nicht gab. Den Bedarf schon. Das wurde spätestens deutlich, als Bismarck auf Druck der erstarkenden Sozialdemokratie die Sozialgesetze in Deutschland einführen musste und viele Menschen aus armen Verhältnissen zum ersten Mal Anspruch auch auf orthopädische Hilfe bekamen.
Aber gleichzeitig tat auch der Staat verstärkt sein Interesse an gesunden, einsatzfähigen Menschen kund. Denn gerade für den immer mehr ausufernden Militärdienst wollte man ja Soldaten haben, die nicht bucklig und krumm waren und deshalb die Belastungen nicht aushielten. Spät genug bekam man auch mit, dass auch die Schule selbst ihren Beitrag leisten musste, damit Kinder keine Haltungsschäden ausprägten. Da kannten auch Leipziger Ärzte kein Pardon, als sie in öffentlichen Artikeln die ungesunden Bedingungen im Schulalltag anprangerten. Das Ergebnis waren nicht nur kindgerechtere Sitzmöbel, sondern auch die Einführung eines sinnvollen Turnunterrichts.
Und während die beiden großen Kriege, in die Deutschland hineintrampelte, viele gute Ärzte und Orthopäden das Leben kosteten, produzierten sie gleichzeitig einen riesigen Bedarf an orthopädischen Hilfen für die hunderttausenden Kriegsversehrten. Was ja ein Grund dafür war, dass es in Leipzig auch nach 1945 eigenständige orthopädische Praxen gab.
Susanne Hahn beschränkt sich bei der historischen Aufarbeitung des Stoffes vor allem auf die Zeit bis 1945. Die Zeit danach wäre wohl eigene Untersuchungen wert, ist auch von neuen politischen Einflussnahmen geprägt und von einer neuen Sicht auf die Einordnung der Orthopädie in die universitäre Medizin.
Aber mit ihrer Arbeit macht sie auch erstmals sichtbar, wie aus ersten ärztlichen Regungen, Menschen mit körperlicher Behinderung helfen zu wollen, im Lauf eines Jahrhunderts erst eine umfassende Wissenschaft wurde, die die wichtigsten Krankheitsbilder erfasste und nicht nur technische Hilfsmittel entwickelte, sondern auch vielfältige Formen der Rehabilitation. Da sieht Manches im historischen Dokument recht martialisch aus, erzählt aber auch von einem langen und nicht immer einfachen Ringen um Erkenntnis. Und natürlich gehört auch ein sich langsam veränderndes Verhalten zu Menschen mit Behinderungen dazu, die über Jahrhunderte ein Schattendasein am Rand der Gesellschaft führten. Deswegen verwahrten sich die Leipziger, die mit ihrem Geld und Engagement Heime wie das „Humanitas“ ermöglichten, auch deutlich gegen den Begriff Krüppel, den dann ab 1933 freilich die Nazis mit aller Bosheit wieder in Gebrauch nahmen. Dass sie auch wesentliche Vertreter der Leipziger Orthopädie arbeitslos machten und ins Exil zwangen, gehört auch zu dieser Geschichte.
Die dunklen Seiten der Zeit lässt die Autorin nicht weg, auch nicht im Nachspann ihrer Arbeit, wo sie die wichtigsten Akteure aus dem von ihr geschilderten Zeitabschnitt noch einmal mit teils kurzen, teils längeren Biografien würdigt. Und da sie viele Geschichten zum ersten Mal aus den Archiven rekonstruiert, ist dieses scheinbar so spezielle Thema natürlich auch eine kleine Entdeckungsreise in ein Leipzig, das man so eigentlich noch gar nicht wahrgenommen hat.
Susanne Hahn Leipzig und seine Orthopädie, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2016, 15 Euro.
In eigener Sache
Jetzt bis 13. Mai (23:59 Uhr) für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien, wie zB. T-Shirts von den „Hooligans Gegen Satzbau“, Schwarwels neues Karikaturenbuch & den Film „Leipzig von oben“ oder den Krimi „Trauma“ aus dem fhl Verlag abstauben. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.
Keine Kommentare bisher