Einmal im Jahr gรถnnt sich der Leipziger Geschichtsverein ein Almanach: einen schรถnen Sammelband mit Texten zu allerlei Seiten der Leipziger Geschichte, um die sich bislang niemand gekรผmmert hat. Das โ€žJahrbuch 2014โ€œ erschien 2015, mitten im Jubilรคumsjahr 1.000 Jahre Ersterwรคhnung. Und bewies so nebenbei: Das Jahr 2015 stellt keinen Schlusspunkt der Beschรคftigung mit Stadtgeschichte dar. Nicht mal einen Zwischenhalt.

Was natรผrlich โ€“ und glรผcklicherweise โ€“ auch an den Leuten liegt, die sich im Leipziger Geschichtsverein zusammengetan haben und die Forschung zu vielen Themen, รผber die sie gestolpert sind, emsig weitertreiben. Manches fรคllt bei groรŸen Forschungsprojekten โ€“ wie der Arbeit an der groรŸen vierbรคndigen Stadtgeschichte โ€“ ab. Manches ist von geschichtlichen Jubilรคen angestoรŸen โ€“ 2014 war das logischerweise der Beginn des Ersten Weltkriegs. Das groรŸe Buch zu Leipzig im Ersten Weltkrieg ist zwar (noch) nicht entstanden. Aber das hat natรผrlich damit zu tun, dass viele Quellen noch gar nicht aufgearbeitet sind, viele Schwerpunkte noch gar nicht ausgelotet.

Drei Beitrรคge im โ€žJahrbuch 2014โ€œ zeigen, um welche mรถgliche Materialfรผlle es da geht. Der erste ist Chistina Randigs Beitrag zur Bugra, die am 6. Mai 1914 auf dem heutigen Gelรคnde der Alten Messe erรถffnet wurde, dann aber im August vom Kriegseinbruch erwischt wurde und es trotzdem schaffte, mit รผber 2 Millionen Besuchern zu einer echten Weltmesse rund um die moderne Produktion des Buches zu werden โ€“ mit Pavillons auch jener Lรคnder, gegen die damals schon die Scharfmacherei der deutschen Kriegstreiber in Gang gesetzt war. Sie kamen trotzdem โ€“ die Franzosen, die Englรคnder, die Russen. Und sie kamen auch, weil sie diese Leipziger Weltausstellung rund ums Buch als Zeichen verstanden, Zeichen fรผr ein anderes Europa, das lรคngst dabei war, Kontur anzunehmen: ein gemeinsames Europa mit freiem Waren- und Kulturaustausch.

Bis dann die Kriegsherren dem Traum im August ein Ende setzten.

So ganz nebenbei wird deutlich, wie hinterwรคldlerisch vor diesem Hintergrund die Regierungen, allen voran der zur Selbstkorrektur unfรคhige deutsche Kaiser, waren in ihrem politischen Agieren mit Drohen, Aufrรผsten, Panikmachen, Ultimatenstellen, Krieg erklรคren โ€ฆ Die Herren Mรคchtigen haben sich sehenden Auges selbst in Handlungszwรคnge gebracht. Und das erinnert doch fatal an einige mรคchtige Herren der Gegenwart, die genauso blindlings alles dafรผr tun, Konflikte zu verschรคrfen, Konfrontationen zu forcieren und mit dem Feuer zu spielen, immer mit der hintergrรผndigen Drohung, auch mit Waffengewalt zu agieren. Wenn man sie dazu zwingen sollte. Sie kรถnnen ja nie etwas dafรผr. Immer sind die Umstรคnde oder die Anderen daran schuld.

Tragisch, dass diese Art, Politik zu machen, mit der โ€žUr-Katastrophe des 20. Jahrhundertsโ€œ kein Ende fand. Sind Menschen wirklich so blind fรผr die Folgen einer Konfrontationspolitik? Oder sind die Macht- und Meinungsmechanismen zu stark, als dass man sich den ausgelรถsten Bewegungen in die Katastrophe entziehen kรถnnte?

Immerhin ein Thema, das Gerald Kolditz streift in seinem Beitrag โ€žVon der Euphorie zur Ernรผchterung โ€“ Leipzig in den ersten Kriegsmonaten 1914โ€œ, in dem er kurz skizziert, wie die Stadt auf die Mobilmachung im August reagierte und auf die Tatsache, dass der Krieg nach dem ersten rasenden Vormarsch auf Paris eine drastische Wendung nahm und sich schon um Weihnachten abzeichnete, dass dieser Krieg ein langer und zermรผrbender werden wรผrde. Mit allen Belastungen fรผr die Stadt und ihre Bevรถlkerung โ€“ ersten Versorgungsengpรคssen, Rationierungen, dem zunehmenden Fehlen von Arbeitskrรคften.

Ein Problem, die Stimmung in dieser Zeit zu erfassen, ist natรผrlich die sofort mit Kriegsbeginn einsetzende Zensur, die dafรผr sorgte, dass Kritik am Krieg oder gar das Schildern seiner negativen Folgen nicht thematisiert werden konnten. Es gibt genug Berichte รผber die Euphorie im August โ€“ wobei Gerald Kolditz nicht der erste ist, der bezweifelt, dass diese Euphorie alle Bevรถlkerungsschichten erfasste. Die sozialdemokratische LVZ war die erste Zeitung, die den massiven Eingriff der Militรคrzensur erlebte. Ach das gehรถrt ja zu den Herrschaftsmechanismen der Leute, die auch dann noch Krieg spielen, wenn das Land dabei kaputt geht: Sie sichern sich die komplette Kontrolle รผber die ร–ffentlichkeit. Und das fiel natรผrlich auch leichter, weil die SPD โ€“ selbst angesteckt von der Kriegshysterie โ€“ den unseligen Burgfrieden einging, den sie eigentlich bis zum Kriegsende nicht aufgab. Was umso tragischer war, als sie sich vorher durchaus als Teil einer europรคischen Friedens-Internationale empfand.

Wie dann der einzelne betroffene Soldat den Krieg erlebte, das vollzieht Ulrich Baumgรคrtl am Kriegstagebuch seines GroรŸvaters Kurt Baumgรคrtel nach, der die Ereignisse an der Westfront aus der Perspektive eines Kompaniefeldwebels erlebte โ€“ also nicht direkt im Schรผtzengraben, sondern im Organisationsfeld direkt hinter der Truppe, was natรผrlich seine รœberlebenschancen deutlich erhรถhte, was ihn aber auch einen GroรŸteil der Grausamkeit sehen lieรŸ, die sichtbar wurde, wenn die Truppe durch verwรผstete Stรคdte zog โ€“ oder auf dem Rรผckzug in der eigenen Verwรผstung kampieren musste. Das Tagebuch ist zumindest bis zum Spรคtherbst 1914 abgedruckt. Auch hier die deutliche zeitliche Zรคsur, die damals auch eine Chance auf Frieden gewesen wรคre, denn die verlustreichen Schlachten des Spรคtsommers und des Herbstes hatten ja nur allzu deutlich gezeigt, was fรผr ein material- und menschenverschlingender Krieg das werden wรผrde.

Ein interessanter psychologischer Moment, an dem ja bekanntlich der deutsche Kaiser endgรผltig die Kontrolle verlor und die Zรผgel der Politik komplett an den deutschen Militรคrstab abgab, der sich fortan vรถllig als unfรคhig erwies, den einmal eingeschlagenen Weg bis zur kompletten Niederlage zu verlassen.

Aber der Sammelband wรผrdigt natรผrlich auch einen Mann, der fรผr die Leipziger Geschichtsforschung eine zentrale Rolle hatte: Detlef Dรถring, der im April 2015 viel zu frรผh starb. Er war ja auch Mitherausgeber der vierbรคndigen Stadtgeschichte. Und fรผr das โ€žJahrbuch 2014โ€œ trug er einen Artikel bei, der sich mit einem Thema beschรคftigte, das im Lauf des Jahres 2015 erst so richtig an Gewicht gewann: โ€žFremde in Leipzig in der Frรผhen Neuzeitโ€œ. Der Text ist wie die groรŸe Skizze zu einem dicken Buch, denn Dรถring kann ja in dieser Kรผrze nur anreiรŸen, welche eminente Bedeutung Menschen aus aller Welt immer fรผr die Handelsstadt Leipzig gespielt haben, wie sie hier den Handel erst so richtig in Schwung brachten, wie die Universitรคt die klugen Fremden regelrecht anzog und sich die Stadt permanent mit Zuwanderern aller mรถglichen Herkunft und Konfession auffรผllte.

Diese Stadt leistete sich zwar immer wieder auch Phasen konkreter Menschenfeindlichkeit โ€“ etwa den Juden gegenรผber. Aber letztlich war Leipzigs 800-jรคhrige Handelsgeschichte auch ein groรŸer Lernprozess, in dem sich ein Teil der selbstverstรคndlichen Weltoffenheit tief verwurzelte, der die Stadt bis heute spรผrbar unterscheidet von anderen Stรคdten. Man kรถnnte es auch Integrationsfรคhigkeit nennen, Wandlungsfรคhigkeit. Nicht ohne Brรผche und Kanten, das lรคsst Dรถring nicht weg.

Und dass davon auch nach 1945 etwas vorhanden war, das wird in Mike Schmeitzers Beitrag zum Zeigner-Bericht vom Mรคrz 1946 deutlich, als der Leipziger OBM Erich Zeichner zu einer groรŸen Werbetour in die britische Besatzungszone aufbrach, um Partner zu finden fรผr ein Wiederauflebenlassen der Leipziger Messe. Am Ende ist das Vorhaben ja an der eigenen Besatzungsmacht gescheitert, die eine neue, deutschlandweit agierende Messe in ihrem Bereich gar nicht wollte und die Leipziger Messe fortan zur โ€žDrehscheibeโ€œ zwischen den Planwirtschaften des Ostens und der Marktwirtschaft des Westens degradierte. Was am Ende natรผrlich einen frustrierenden Blick in diese Zeit ergibt, in der die Alphamรคnnchen gerade wieder begannen, eine neue Konfrontationsspirale in Gang zu setzen, die sich zur Abwechslung โ€žKalter Kriegโ€œ nannte.

Weitere Beitrรคge in diesem Band widmen sich den fast vergessenen Leipziger Tuchmachern, erstaunlich detailreichen Aktenfunden zum Neubau des Schlosses Zรถbigker, dem Bau des Karstadt-Warenhauses in der PetersstraรŸe und โ€“ auch das ein so noch nicht beleuchtetes Thema โ€“ dem โ€žLeipziger Gemetzelโ€œ von 1845, einem der wichtigen Beschleuniger der vorrevolutionรคren Entwicklung in Sachsen. Birgit Horn-Kolditz arbeitet dabei die Unterschiede zu den Unruhen von 1831, befragt die Aktenlage nach den tatsรคchlichen Vorgรคngen und Verantwortlichkeiten. Und es wird etwas sichtbar, was ebenfalls immer wieder sehr Leipzig-typisch geschah: die Hilflosigkeit des Umgangs des Leipziger Rates mit solchen Vorgรคngen, der sich wie zwischen Baum und Borke fรผhlte โ€“ eigentlich dem Gemeinwesen verpflichtet und trotzdem in einem untertรคnigen Verhรคltnis gegenรผber der Regierungsgewalt in Dresden, die selbst in diesem Jahr 1845 noch in untertรคnigste Ergebenheitsadressen mรผndete. Da wird noch sehr schรถn sichtbar, wie das alte feudale Selbstverstรคndnis delegierter Macht funktionierte. Am Ende wurden einige โ€žAnfรผhrerโ€œ aus dem rumorenden Publikum zur Verantwortung gezogen, wรคhrend das Militรคr einen Persilschein ausgestellt bekam. Macht findet immer gute Begrรผndungen dafรผr, dass ihr Tun rechtmรครŸig war.

Auch das ein Kabinettstรผck der Geschichte. Auch wenn es erst das Vorspiel zur 1848er Revolution war und zur kurzen politischen Karriere Robert Blums. Der dann am 9. November vor Wien wieder โ€“ ganz โ€žrechtmรครŸigโ€œ โ€“ diesmal von รถsterreichischen Militรคrs erschossen wurde. Womit man dann schon fast bei den Standgerichten von 1914 wรคre. Deutsche Geschichte. Aufs Markanteste zusammengepresst.

Leipziger Geschichtsverein (Hrsg.) Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2014, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2015, 15 Euro.

In eigener Sache

Frรผhling? Jetzt bis 8. April (23:59 Uhr) fรผr 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prรคmien von den โ€žHooligans Gegen Satzbauโ€œ, Schwarwel oder fhl Verlag abstauben und vielleicht mit einem โ€žLeipzig-Radโ€œ in den Sommer radeln. Einige Argumente, um Unterstรผtzer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.

รœberzeugt? Dann hier lang zu einem Abo โ€ฆ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar