Meist sind es nicht die üblichen Preisträger, die die eigentlichen Aufreger-Bücher aus Leipzig schreiben. Es sind Typen wie dieser nimmermüde Autor und Verleger Tino Hemmann, der eben nicht nur den Engelsdorfer Verlag betreibt, sondern in einem atemberaubenden Tempo auch Bücher vorlegt, die mit dem Label „Thriller“ eigentlich unter Wert bezeichnet sind. Um thrill geht es auch in diesem Buch nur am Rand.

Auch wenn das Atemberaubende natürlich den größten Teil des Buches dominiert. Oder sollte man besser sagen: das Atemlose? Die Hatz einer Zeit, die immer stärker im Würgegriff einer Medienwelt ist, in der es nur noch um Quote, Blut, Sex und Crime geht? Ein moderner Zirkus, ganz wie im alten Rom, der die Zuschauer vor den Bildschirm lockt mit dem täglich neuen Versprechen, dass es wieder Katastrophen, Mord und Totschlag geben wird – möglichst live gesendet aus allen Ecken der Welt. Mit wirklich finsteren Bösewichtern und echter Panik, mit blutigen Siegen und zur Strecke gebrachten Bösewichtern.

Der Rest ist Show. Talkshow, Spielshow, Rateshow. Da werden sechstklassige Promis in Container gesperrt oder in den Dschungel verfrachtet und die Kamera schaut ihrem peinlich entblößten Leben zu. Voyeurismus als Medienmasche, auch immer öfter im nur noch bedingt öffentlich-rechtlichen TV, das Geld der Gebührenzahler verbraten für reinen Zirkus, eine inszenierte Welt, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Da wundert man sich irgendwann nicht mehr, dass die Gesellschaft nicht wirklich über Politik, Demokratie und ihre zunehmende Zerstörung durch Leute nachdenkt, die mit ihrem Geld Einfluss haben auf politische Entscheidungen, auf Ermittlungen und Prozesse. Ein Thema, das in Hemmanns Romanen schon immer mitschwingt. Was sie immer auch vertraut macht, denn darin ist Hemmann auch den besten Krimis anderer Autoren aus Leipzig nah. Mitsamt seinen Kommissaren Rattner und Hinrich, die nach Jahrzehnten der Mühsal immer öfter am Rand der Resignation sind, weil alle ihre Ermittlungen für die Katz sind, wenn sich die Täter mit besten Beziehungen immer wieder freikaufen können.

Und darum geht’s in diesem Buch. Bei dieser Show, die weit über das hinausgeht, was unsere öffentlichen und privaten Sender als Volksverdummung produzieren. Sechs schwerreiche Personen werden überall in Deutschland entführt. Leute, die man nicht unbedingt als Promis bezeichnen kann, die aber rücksichtslos genug waren, um sich auf Kosten anderer dreistellige Millionenbeträge zu sichern. Und auf einmal tauchen sie in einer seltsamen Show wieder auf, die im Internet aufploppt und den scheinbar vertrauten Titel „Wer bleibt Millionär?“ trägt. Nur dass es hier als Preis keine Million gibt, sondern die Verlierer jeder Runde vor der Kamera exekutiert werden. Der Leser darf durchaus in Angst und Schrecken verfallen, denn solche Pervertierung traut man ja dem immer mehr verwilderten TV der Gegenwart eigentlich schon lange zu.

Denn wo es nur noch um Quote geht, haben moralische Grenzen keinen Platz mehr. Logisch, dass selbst die Staatsspitze alarmiert ist und binnen Stunden eine Sonderkommission aus dem Boden gestampft wird, sogar BND und amerikanischer Geheimdienst eingeschaltet werden. Denn immerhin gibt es ja die vage Möglichkeit, dass hinter der Sache ein terroristischer Ansatz stecken könnte, der sich diesmal gegen die Reichen im Land richtet. Womit man bei den ganzen Narreteien rund um den Terrorismus wäre, die in den vergangenen Jahren immer wieder als Begründung herhalten mussten, wenn wieder mal eine neue Schweinerei begründet werden sollte: ein völlig sinnfreier Krieg, eine massive Einschränkung von Bürgerrechten, eine drastische Erhöhung der Kontrollaufwände. Alles Dinge, die „den Terrorismus“ erst recht aufgeblasen haben – und ihn auch erst so richtig hoffähig gemacht haben.

Aber dass es im Fall dieser obskuren Show, die sofort Millionen Zuschauer vor die Bildschirme zieht, wohl doch nicht um Terrorismus geht, das merken ziemlich bald auch der recht ratlose Innenminister, der grantelige BND-Chef und auch die Ermittler in Leipzig, die ziemlich nah am Ort des Geschehens sind und wohl auch die Chance hätten, noch während der Show zuzugreifen.

Aber nicht nur in der sogar von der ARD weiterverbreiteten Show scheint es auf einmal um völlig andere Dinge zu gehen, entpuppen sich die Entführten als Leute, die nicht nur Dreck am Stecken haben und mit korrupten Mitteln zu ihrem Vermögen gekommen sind. Sie haben auch augenscheinlich allesamt Leichen im Keller – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Und der seltsame Moderator, der sich in einem eigenartigen Kostüm als Quotenmann zeigt, hat augenscheinlich ein paar offene Rechnungen zu begleichen. Auch für andere, die sich nicht wehren konnten, weil Polizei und Justiz immer auf der anderen Seite standen. Da geht es wohl nicht nur Tino Hemmann so, dass er das immer schwerer wiegende Gefühl hat, dass unsere Gesellschaft auf einem ganz üblen Weg ist, einem Weg, auf dem nur noch Geld darüber entscheidet, ob jemand straflos davonkommt oder die gesamte Macht des Staates zu spüren bekommt.

Und bei Hemmann sind es immer die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, für die er in seinen Romanen stellvertretend so harte Kerle wie Kommissar Hinrich oder den SEK-Mann Sorokin kämpfen lässt. Oder gleich den blinden Teenager Fedor, der viel zu klug ist, um sich mit der Blindheit abzufinden. Der Junge ist der Erste, der dem Kern der seltsamen Show auf den Grund geht – eine Geschichte, die durchaus als Schreckmoment im Buch aufscheint, bevor der Leser merkt, dass Hemmann längst die Erzählspur gewechselt hat und so langsam deutlicher wird, was das Anliegen seiner Geschichte betrifft. Und diesmal verweben sich noch ein paar mehr Dinge, gibt es nicht nur den einfühlsamen Blick auf diejenigen, die unter den rabiaten Maschen der Kriminellen und Reichen zu leiden haben, sondern auch den Blick auf eine Medienlandschaft, die ihre Unschuld längst verloren hat, wo sich hinter der Jagd auf Quote auch die Gier nach dem großen Geld versteckt, verbunden mit der Aufgabe aller moralischen Standards: Was verkauft werden kann, wird gesendet, egal, wie sehr damit das Verlangen einer immer sensationslüsterneren Gesellschaft nach Erniedrigung, Rache, Mordlust befriedigt wird.

Das merkt der Leser spätestens, wenn der Spieleentwickler Hannes Gartenleitner vorgestellt wird, der seine Millionen mit dem Verkauf eines blutrünstigen Online-Spiels gemacht hat. Und es sind solche Spiele, mit denen das große Geld gemacht wird, selbst von scheinbar seriösen Medien immer wieder besprochen, als hätten diese Spiele eine Art Kunst- oder Bildungscharakter, ginge es nur um die Finesse des Spielaufbaus und die Ansprüche an die Taktik des Nutzers – und nicht um schlichtes Töten, Morden, Brandschatzen. Man ahnt schon, dass der vermummte Quotenmann mehr beabsichtigt, als diese feinen Herrschaften nur in einem Spiel auf Leben und Tod ins Schwitzen zu bringen. Und dass es ihm auch um mehr geht als nur die Herbeiführung von Gerechtigkeit.

Auch wenn das am Ende doch noch einmal so im Mittelpunkt steht. Kurz zuvor lässt Hemmann seinen Quotenmann die eigentlich wichtigen Worte sagen, die ihm auf der Seele brennen. Da spricht der Show-Master ein letztes Mal das Publikum an: „Glaubt ihr tatsächlich, dass ihr euch und vor allem euren Kindern einen Gefallen damit tut, wenn ihr euch zu Mord, Diffamierung, Herabwürdigung, Sex, Geld und Heuchelei hingezogen fühlt? Je höher die Einschaltquoten bei unterirdischen Sendungen sind, desto häufiger wird es solche Sendungen – drücken wir es einfach aus – Medienspektakel geben. Und die intelligenten, humanen und angenehmen Medien werden stetig weniger und schließlich werden sie ganz verschwunden sein. Was ich damit sagen will: Ihr sorgt mit eurem Verhalten für die Destabilisierung der öffentlichen Moral.“

Das Wort in die Ohren der Verantwortlichen, die aber wohl auch diesmal nicht hören werden. Warum auch, bei ihrem Gehalt?

Die Ansprache ist noch ein ganzes Stück länger. Aber im deutschen TV hat man so etwas lange nicht gehört. Da wird viel über Moral geschwätzt – aber nie hinterfragt, was man selbst tut, welchen moralischen Maßstäben eigentlich das eigene Programm noch unterliegt.

Man merkt, dass es der Autor ist, dem dieses Gefühl zunehmend zusetzt, dass sich  Medienberichterstattung immer weiter radikalisiert und zur Hure des großen Geldes macht. Und dass darunter – darüber diskutieren in diesem Fall besonders Hemmanns Lieblingskommissare Rattner und Hinrich immer wieder – auch unsere Demokratie leidet. Denn wenn das große Geld die öffentliche Wahrnehmung verzerrt, dann wird kaum noch wahrgenommen, wie es auch die staatlichen Institutionen zerstört, Justiz und Polizei korrumpiert, Politik völlig blind macht für die eigentlichen, ungelösten Aufgaben.

Das ist – auf spannende und einfühlsame Art – wohl die deftigste Medien-Kritik der jüngsten Zeit. Mit ungewöhnlichem Moderator und unerwartetem Ausgang. Denn das Bauchgefühl sagt einem eigentlich, dass – würde das tatsächlich alles so geschehen – die handelnden staatlichen Figuren keineswegs so verständnisvoll agieren würden, eher „mit aller Härte“ bestrebt wären, wieder „ein Exempel zu statuieren“ und mit aller Macht (und auch vor laufenden Kameras) zeigen würden, dass diese Art Staatsvertreter kein Pardon kennen.

Aber Tino Hemmann gibt den festen Glauben daran, dass auch Amtsinhaber und politische Verantwortungsträger irgendwo noch so etwas wie ein Gewissen haben und bereit sind, sich auch in dramatischen Situationen wie Menschen zu verhalten, nicht auf. Das ist tröstlich. Zumindest bis zu dem Moment, in dem einem wieder bewusst wird, wie stark unsere Gesellschaft schon vom großen Geld und der Gier der Reichen und Korrupten zerfressen ist.

Tino Hemmann: Wer bleibt Millionär?, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2016, 12 Euro.

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