Wo feiert man am besten Buchpremiere für ein Buch, das - wenn auch nur fiktiv - in Leipzig spielt, wenn nicht in Leipzig? Das haben Autor Karsten Flohr und der acabus Verlag zur Leipziger Buchmesse auch getan. Dabei ist der Bursche ein Hamburger. Doch in Leipzig, so muss er sich gedacht haben, ist so eine Geschichte noch möglich.

Mit Betonung auf „noch“.

Karsten Flohr ist Journalist, hat jahrelang für diverse Zeitschriften gearbeitet. Seit einigen Jahren ist er als Wissenschaftsautor unterwegs, hat aber auch schon diverse Romane geschrieben – übers deutsche Großbürgertum und seinen Verfall im Ersten Weltkrieg etwa, einen Auswandererroman oder einen über eine jüdisch-arabische Liebe in der Nazi-Zeit. Klingt nach eher klassischen Themen.

Als er dann aber die durchaus skurrile Geschichte über Bruno und die von ihm geerbte Villa Ludmilla schrieb, war ihm seine Heimatstadt wohl doch etwas zu seriös – auch wenn Hamburg selbst eine lange Geschichte auch erfolgreicher Hausbesetzungen hinter sich hat, die sich in einigen Fällen auch in beständige alternative Wohnkonzepte verwandelt haben. Ein Thema, das ja auch in Leipzig rumort, nur steckt Leipzig irgendwie in einem Nachholzyklus, in dem die meisten Verantwortlichen immer noch glauben, sie müssten mit aller Macht den Vorrang von Immobilienbesitz durchsetzen und alternatives Wohnen könnte nur für einen kleinen Übergangszeitraum als geduldetes Modell funktionieren.

Aber nach außen hin hat Leipzig immer noch so ein gewisses experimentelles Flair. Und da ist schon gut vorstellbar, dass ein Medizinstudent im 18. Semester versucht, sich irgendwie durchzuboxen, auch wenn er eigentlich kein Geld hat und sich das immer nur pumpen muss – und mit Zins zurückzahlen. Zum Beispiel an die Russenmafia. Kann sein, Karsten Flohr hat mit Begeisterung die dicken Leipzig-Romane von Clemens Meyer gelesen. Dann kann so ein Eindruck schon entstehen.

Aber eigentlich schreibt Flohr über seinen eigenen Traum: eine Gesellschaft, die sich anders definiert als unsere jetzige Steuerprüfer-und-Bürokraten-Gesellschaft. Eine, in der das Geld nicht nur die beklemmende Rolle spielt, die es jetzt spielt, und in der Menschen, die nicht richtig passen in diese Gier-und-Geiz-Gesellschaft, eine Chance bekommen, mit ihren Unstimmigkeiten trotzdem akzeptiert zu werden.

Originale nannte man das mal. In Zeiten, als nicht auch noch der letzte Postbote und emsigste Student in ein Zeitkorsett gepresst wurden, in dem an Eigenwilligkeit, Charakter und Unangepasstheit nicht mehr zu denken ist. Das Unbehagen spürt man auch bei Flohr. Und hätte er nicht seinen eigentlich eher nicht ganz so bologna-fähigen Bruno die tolle Villa einer fast vergessenen Tante erben lassen, hätte er wohl die Geschichte eines Niedergangs schreiben müssen. Denn die Russenmafia und später auch noch eine ganze Bande von Glatzen haben ja nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit deshalb Macht über andere Menschen, weil Teilhabe und Verständnis keine akzeptierten Kategorien mehr sind und alles, jeder einzelne Bereich unserer Gesellschaft, dem Geld, dem Profit, dem „Markt“ untergeordnet sind.

Wer nicht passt, fliegt raus. Oder landet – wie es einigen der späteren Gäste droht, die in Brunos Villa ein neues Zuhause finden – in der Klapsmühle oder im Gefängnis. Dabei erzählt zwar Flohr scheinbar locker und phantasievoll hintereinander weg, wie seine ganzen unangepassten Gestalten so nach und nach in der Villa Ludmilla anlanden, aber er spart die Konflikte nicht aus, die sie alle irgendwie mit einer ordnungsbesessenen Welt haben, einer Welt, in der selbst Polizisten und Richter ihre Funktion darin sehen, die saubere Außenwelt von Menschen zu befreien, die sich nicht so benehmen, wie es die Sauberkeitsverordnung gerade verlangt.

Dass dabei auch ein paar kaputte oder schlichtweg an den Rand gedrängte Typen aus der verschwundenen DDR sind, gibt der bunten Geschichte noch eine zusätzliche Dimension. Denn in der Regel haben die Überlebenden des alten Kutters DDR ja keine großen Villen geerbt und auch eher nicht die Leichtfertigkeit eines Bruno, der quasi der aus der Art geschlagene Sohn von Eltern ist, die sich ein kleines Waschsalon-Imperium aufgebaut haben. Den meisten ging es wohl eher wie Helga, die sich mit aller Macht den neuen Sauberkeitsvorschriften anpasste – und dann landet sie wegen des Diebstahls eines kleinen Reinigungsprodukts vorm Kadi. Kennt man irgendwie, nicht wahr?

Als wäre ein ganzer Staat nur noch darum “bemüht, den kleinen, widerspenstigen Leuten das Leben so gut wie möglich zu verhageln – die richtig großen Ganoven aber weidlich zu verschonen. In diesem Fall eben diverse Glatzen und russische Mafioso. Wobei auch ein aalglatter Rechtsanwalt seine unrühmliche Rolle spielt – und in die Flucht geschlagen wird. Was der Geschichte endgültig etwas Märchenhaftes gibt, denn längst ist die deutsche Gesetzgebung so verkrautet, dass es kaum noch Chancen gibt, sich gegen den Missbrauch von Paragraphen und „Gesetzeslücken“ zu wehren, wenn man nicht selbst einen teuren Anwalt bezahlen kann.

Flohr beschreibt also ein Biotop, das es so im durchregelten  Deutschland der Gegenwart eigentlich nicht mehr geben kann. Auch in Leipzig nicht. Schön wär’s. Aber die Pioniere der Viertel, die noch vor wenigen Jahren nur deshalb wieder Leben bekamen, weil sich Menschen ohne dicken Geldbeutel an ihre Wiederbelebung machten, können ein Lied davon singen. Auch Leipzig wird immer mehr zu einer komplett durchregulierten Stadt ohne „wilde” Freiräume, Testfelder und dieses kleine bisschen Anarchie, das das Stadtmarketing so gern als „alternativ“ verkauft.

Verwoben ist Flohrs Geschichte mit einer durchaus burschikosen Zeitreise-Geschichte. H. G. Wells lässt grüßen. Denn Zeitreisen sind das eigentliche Faible, für das Bruno lebt und auch seine Freunde und Mitstreiter begeistert – auch weil er versuchen will, den großen Priester, Philosophen und Astronomen Giordano Bruno vor dem Scheiterhaufen zu retten. Eine Geschichte, die fast untergeht, weil alle neuen Mitbewohner der Villa Ludmilla was zu erzählen haben – und sich damit wohl ebenfalls wohltuend von den glattgewienerten Zeitgenossen, die für eigene Phantasie schon lange keine Zeit mehr haben, unterscheiden. Da ist ein genialer Komponist, der nur das Pech hat, dass er niemals Noten lernen durfte, da ist der geschasste Nachtwagen-Schaffner, der die nächtlich im Zug Schlafenden nicht nur fotografiert, sondern auch ihren Lebensgeschichten zugehört hat. Und da ist auch noch die einstmals beliebte Wetterfee des DDR-Fernsehens, die sich nun als Reisebegleiterin in einem Busunternehmen über Wasser hält.

Die Villa hat eine ganze Menge Räume, in denen „unpassende“ Menschen ein neues Zuhause, neue Freunde und Unterstützung finden. Womit wohl die Sehnsucht des Autors nach einer anderen, menschlicheren Gesellschaft, die auch Nischen und Nicht-Funktionieren erlaubt, am knappesten beschrieben wäre.

Die Angepassten und Funktionierenden merken meist gar nicht mehr, wie belastend die Welt ist, die sie am Jagen hält, wie sehr die pure Jagd nach Rendite unsere Gesellschaft aushöhlt, regelrecht entkernt und entseelt. Und wie beklemmend die Wahrnehmung ist, dass selbst solche Zufluchtsräume, wie sie in diesem Buch ideal-typisch die vererbte Villa darstellt, immer mehr verloren gehen. So wie in den Feldern die Bauminseln und Feldraine, die Alleebäume und Streuobstwiesen verschwinden. Zur landwirtschaftlichen kommt die gesellschaftliche Monokultur, in der Unkraut und schief Gewachsenes einfach mit Unkraut-Ex und Kettensäge bekämpft werden. Bis alles überall gleich aussieht und gleich öde, sauber und charakterlos wirkt. Zum Weglaufen. Zum Verzweifeln.

Am Ende will Bruno gar ein zweites Haus bauen. Aber da ist man ja viel zu gut erzogen und fragt sich ganz irdisch: Und wer bezahlt das? Hat er noch einen reichen Onkel, der ihm was vererbt? Vielleicht im Westen?

Das wäre mal was. Quasi ein Wunder. Denn wer gibt schon sein gut angelegtes Geld her, wenn nachher lauter Verrückte in die neue Villa einziehen?

Kommt gar nicht in die Tüte, nicht wahr?

Karsten Flohr Villa Ludmilla, acabus Verlag, Hamburg 2016, 12,90 Euro.

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