Ohne all die fleißig forschenden „Hobby“-Historiker in Leipzig wären viele Kapitel der Stadtgeschichte überhaupt nicht oder nur oberflächlich erforscht. Manche stürzen sich in ihr Themengebiet, wie es Dieter Kürschner tat, nachdem sein Leben als Offizier der NVA durch die Zeitenwende 1990 komplett umgekrempelt wurde. Fortan wurde er zum Fachmann für Leipziger Militärgeschichte, Denkmale und die Opfer des NS-Regimes.
Mit mehreren Veröffentlichungen zur Garnisonsstadt Leipzig machte er sich einen Namen als profunder Kenner der Materie. Aber als sachkundiger Bürger brachte er sich seit Anfang der 1990er Jahre auch ein, als es um die Umbenennung von Leipziger Straßen ging. Und ohne Sachkunde ging da nichts. Es gab zwar viele Straßen, die lediglich zur Feier der gerade verabschiedeten Ideologie aufgemotzte Namen wie „Straße der DSF“ bekommen hatten, mit anderen Umbenennungen hatte man zu DDR-Zeiten die Funktionäre und Heiligen des ewig siegreichen Sozialismus gefeiert. Logisch, dass das alles wieder weg konnte – viele Straßen bekamen so ihre guten alten Namen zurück.
Aber dann waren da ja noch die anderen Umbenennungen nach 1945, mit denen im ganzen Stadtgebiet Menschen gewürdigt worden waren, die aus politischen Gründen in die Mordmaschinerie der NS-Diktatur geraten waren. Da war ein Mann in der Kommission Straßenum- und Neubenennung des Leipziger Stadtrates wie Dieter Kürschner wichtig, der immer fundiert begründen konnte, warum eine Umbenennung eher kontraproduktiv gewesen wäre. Es fehlte im Straßenbild die Ausgewogenheit, denn vor allem hatte man ja die Opfer aus dem kommunistischen Widerstand gewürdigt – die Würdigungen aus dem bürgerlichen oder christlichen Widerstand fehlten. Das hat sich seither spürbar geändert.
Aber mit der intensiven Arbeit mit der Materie begann Dieter Kürschners Forschung zu den Opfern des NS-Reichs im Grunde erst. Im Lauf der Jahre forschte er in allen erreichbaren Archiven, in denen noch Akten aus dem Zeitraum 1933 bis 1945 erhalten sind, beschäftigte sich intensiv mit den Strafbataillonen der Wehrmacht, in die Männer gepresst wurden, die zuvor langjährige Haftstrafen in den KZs hatten verbüßen müssen, mit der Militärgerichtsbarkeit und der NS-Militärjustiz.
Seine Forschungen waren eine wichtige Ergänzung zu den gleichzeitigen Aufarbeitungen zu anderen großen Opfergruppen der NS-Zeit: den Leipziger Juden, den Sinti und Roma oder den Opfern der „Euthanasie“. Jedes einzelne Gebiet ein Feld des Grauens, auf dem sichtbar wurde, wie die Mordmaschine der Nazis mit sturer, bürokratischer Präzision ablief und dabei immer auf die bereitwillige Mitarbeit der Behörden, der Polizei, der Richter und vieler Ärzte rechnen konnte. Eine Diktatur ist eben nicht allein das Verbrechen einer radikalisierten Partei und ihrer Führer. Sie funktioniert nur, weil die radikalen Machthaber auch den vollen Zugriff auf den kompletten Staatsapparat haben, der ab 1933 nicht nur gleichgeschaltet wurde, sondern auch dem rigiden „Führerprinzip“ unterworfen.
Das alles muss man wissen, wenn man überhaupt begreifen will, wie Diktaturen funktionieren und wie sie sich des Staatsapparates bedienen, um auch noch die wildesten Zerstörungen menschlicher Werte in gnadenlose Justiz zu verwandeln.
Und das ist das eigentlich Bedrückende an dieser Sammlung, an der Dieter Kürschner im Grunde bis kurz vor seinem Tod 2013 gearbeitet hat. Seit 1999 hat er immer wieder schon erste Fassungen fertiggestellt und weitergegeben – an die Leipziger Stadträte, damit sie schwarz auf weiß in der Hand hatten, wie tief die NS-Justiz ins Leben der Leipziger eingriff, an diverse Archive und Bibliotheken. Und dabei nahm die Sammlung immer neue Umfänge an, kamen immer neue Namen und Opfergruppen hinzu.
Das hier ist das vollständigste Verzeichnis aus dem Nachlass von Dieter Kürschner, das nun über 500 Namen von Menschen umfasst, die ins Räderwerk der NS-Tötungsmaschine gerieten. Angefangen mit den Menschen, die im Widerstand versuchten, gegen das Regime anzukommen und für Dinge verurteilt wurden, die in einer demokratischen Gesellschaft eigentlich das Selbstverständlichste sind. Ihnen wurde Hochverrat genauso zur Last gelegt wie antifaschistische Propaganda, –„staatsfeindliche Betätigung“ oder auch nur die „Vorbereitung hochverräterischer Unternehmen“. Schon 1933 hatte sich das frisch installierte NS-Regime weitgehende Sondergesetzgebungen verschafft, mit dem es alle politisch missliebigen Betätigungen kriminalisieren und politische Gegner über Jahre in Zuchthäusern und den neu eingerichteten KZ internieren, quälen und zur Zwangsarbeit nötigen konnte.
Viele der Inhaftierten wurden auch schon in den Leipziger Untersuchungsgefängnissen gefoltert und zu Tode geprügelt oder nahmen sich hier schon nach wenigen Tagen Haft das Leben. Und selbst wer die erste Haftzeit in KZ und Zuchthäusern überlebte, hatte ab 1940 eigentlich keine Chance mehr, der Vernichtungsmaschine zu entrinnen, denn diesmal wurden ehemalige KPD- und SPD-Funktionäre gleichsam „vorbeugend“ und systematisch verhaftet und in die Vernichtungslager gebracht.
Und auch wer sich nie politisch betätigt hatte, war seines Lebens nicht mehr sicher. Jede Kritik am Hitlerregime, jedes falsche Wort, selbst die Weigerung, den Hitler-Gruß zu bringen, konnte zu Verhaftung und Internierung im KZ führen. Noch schlimmer war es, wenn Kritik an Hitlers Kriegsführung angezeigt wurde. Dann stand auf „Wehrkraftzersetzung“ sofort die Todesstrafe. Und auch hier ist Kürschners Sammlung nur unvollständig, denn gerade aus den letzten Kriegsjahren fehlen viele Akten. Man kann nur ahnen, welche Stimmung des Misstrauens und der Angst damals in Leipzig herrschte. Die sich mit dem nahenden Kriegende noch verschärfte. Denn die Erschossenen vom Exerzierplatz in Lindenthal sind ja allesamt Menschen, die noch in den letzten Tagen des NS-Regimes verhaftet worden waren.
Und ebenso beklemmend ist die Zahl der vielen Leipziger, die aufgrund der Weigerung, für das Hitlerreich zu kämpfen, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Dutzende Männer hatten versucht, sich durch Desertion dem großen Töten zu entziehen, andere wurden wegen Selbstverstümmelung hingerichtet. Aber auch Soldaten mussten mit dem Urteilsspruch „Wehrkraftzersetzung“ rechnen. Die ach so mächtig gewaltigen Nazis haben sich auch eine Armee geschaffen, in der das Duckmäusertum und die permanente Angst vor Denunzianten und „Kettenhunden“ Alltag war. Es ist schon erstaunlich, wie schnell das nach 1945 mancherorts vergessen war und hochdekorierte einstige Offiziere das Hohelied auf diese Armee singen konnten. Und durften. Viele Jahre lang unwidersprochen.
Was Kürschner hier in lauter kleinen Porträts mit Name, Beruf, Wohnort, Todesort und zumeist auch dem entsprechenden Urteil der diversen NS-Gerichte auflistet, gibt eine vage Vorstellung davon, wie sehr das Hitlerreich seine Existenz auf allgegenwärtigen Terror aufgebaut hat. Jeder Widerspruch, jede Kritik, jede Verweigerung konnten direkt ins Zuchthaus oder vor ein Erschießungskommando führen. Und da sich Kürschner ja auf Leipzig konzentriert, bekommt man auch so eine Ahnung davon, wie allumfassend die Terrormaschine arbeitete und wie viele Menschen tatsächlich nur deshalb umgebracht wurden, weil sie sich gegen dieses Regime wehrten oder – etwa den Zwangsarbeitern gegenüber – schlichte Menschlichkeit gezeigt hatten. Kürschner hat auch einige Opfergruppen aufgenommen, die bislang überhaupt nicht im Fokus der Forschung standen – Menschen zum Beispiel, die für kleine Kriminaldelikte sofort mit langen Haftstrafen oder gar dem Tod bestraft wurden. Auch hier hatte die NS-Justiz jegliches Maß verloren und mit Nazi-Kategorien wie „Volksschädling“ oder „Heimtücke“ gearbeitet.
Manfred Hötzel und Frank Kimmerle vom Erich-Zeigner-Haus e. V. haben Dieter Kürschners nachgelassenes Manuskript nun als Herausgeber im Hamouda Verlag untergebracht, womit dieses Forschungsfeld zu den NS-Verbrechen jetzt endlich wieder nachlesbar präsent ist. Es gibt zwar den Hinweis auf das im Internet einsehbare „Gedenkbuch“ der Stadt Leipzig – aber das ist eben leider nicht online einsehbar.
Umso wichtiger ist dieses Buch, das zumindest allen, die es wissen wollen, in kurzen Porträts sichtbar macht, was Faschismus in Deutschland zwölf Jahre bedeutet hat. Und während sich die Generäle in dicken Erinnerungsbänden selbst feierten, waren die Menschen, die hier zu Hunderten ermordet worden waren, weil sie die Nazi-Herrschaft auch nur in Frage stellten, über Jahrzehnte vergessen. Die Erinnerung an sie wieder lebendig zu machen, das ist eine mühselige und langwierige Arbeit. Nicht ohne Grund hatte Dieter Kürschner seine Sammlung so betitelt: „Totschweigen ist die passive Form des Rufmords“.
Dieter Kürschner: Totschweigen ist die passive Form von Rufmord. Leipziger politische Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945, Edition Hamouda, Leipzig 2016, 24,90 Euro.
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