Das ist ein großes Buch, so eines, wie man es aus dem Sax-Verlag schon mehrfach bekam - man denke nur an die beiden Bände zum „Mitteldeutschen Seenland“. Denn nach 25 Jahren Reparieren, Sanieren, Renovieren darf man es erzählen: Dort hinter Leipzig sind uralte sehenswerte Landschaften in neuer Schönheit zu besichtigen. Da hätte auch Peter Franke allein losfahren können mit seiner Kamera.
Und das wird er auch oft genug getan haben. Er ist Profi, einer von den Könnern, die die Leipziger Agentur Punctum mitgegründet haben. Er weiß nicht nur, die richtige Technik einzusetzen, er weiß auch, wann man Schlösser, Flüsse, Wälder in Szene setzen muss, damit die Landschaften ihre Tiefe bekommen und das Licht seine ganze Pracht entfaltet.
Dabei war für die beiden Autoren die Landschaft da unten jenseits der Tagebaue keineswegs neu. Sie gehörte auch in den kohleschwärzesten Zeiten der DDR zum Sehnsuchts-Hinterland der Leipziger. Wer am Wochenende raus wollte aus einer von Ruß ergrauten Stadt, der setzte sich entweder in den Zug Richtung Süden oder fuhr mit dem Zweitakter hin. Hinter den riesigen Tagebauen, die sich auf Leipzig zufraßen, war das Land noch auf erholsame Weise intakt, wirkten das Kohrener Land, das Burgenland an der Mulde, selbst das Land jenseits von Altenburg noch wie eine heile Welt. Hier waren jahrhundertealte Strukturen noch intakt, konnte man wandern, Geschichte erleben und uralte Parks besuchen. Alles zwar nicht so hübsch und aufgefrischt, wie es heute zu sehen ist – aber ein erlebbarer Kontrast zur staub- und rußgeplagten Großstadt, die kaum über attraktive Badegewässer verfügte, war das immer. Deren alte Erholungsoasen waren fast alle ein Opfer des Bergbaus geworden – sei es die Harth, seien es die Pleißedörfer oder die Landschaft bei Auenhain.
Logisch, dass das Leipziger Neuseenland auch einen Platz findet in diesem Buch, das im Grunde ein Plädoyer für eine Wiederentdeckung ist. Denn mit der Fertigstellung der B 72 und der Inbetriebnahme des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzes sind die Landschaften im Leipziger Süden, die jahrzehntelang durch die Bergbaulandschaft abgeschnitten waren, wieder direkt erreichbar. Und wer sich die Fahrt durch die Mondlandschaft viele Jahre gespart hat, der wird nun staunen. Denn auch in den Dörfern und Städten zwischen Borna, Zwickau und Chemnitz wurden die letzten Jahre genutzt, um all die baulichen Kleinode wieder schmuck zu machen.
Man kommt aus dem Staunen natürlich nicht heraus. Denn wenn man die aktuellen Nachrichten aus Sachsen so hört und sieht, dann kann man sich wirklich nicht vorstellen, mit welcher Liebe und welchem Engagement die kulturreichen Landschaften wiederhergestellt wurden. Es ist ein reiches Land. Auch bedingt durch die Geschichte, denn hier waren einst nicht nur potente Fürsten und Rittergutsbesitzer aktiv, sich prächtige Lebenswelten zu schaffen, Galerien, Theater und Bibliotheken. Hier ist ja auch – siehe Zwickau und Chemnitz – das alte Herz des industriellen Sachsen. Hier wurde Geld verdient. Da und dort sind auch die Zeugen des Bergbaus, der Textilwirtschaft, des Automobilbaus zu besichtigen.
Eigentlich eine Gegend zum Glücklichsein. Und vielleicht kommt das ja auch noch. Bernd Sikora deutet es in seinen Texten mehrfach an, wie in den Ortschaften des sächsischen Südens da und dort die Hoffnung keimt, die neu geschaffenen Auto- und S-Bahn-Verbindungen würden den wirtschaftlichen Aufschwung unterstützen.
Denn allein der Tourismus wird nicht die Zukunft sein können. Auch wenn diese Landschaften natürlich zum Reisen einladen, zu Radtouren, Wanderungen, Museumsbesuchen. Aber wie vermarktet man das? Die Touristiker werden es irgendwie versuchen. Und sich wieder verzetteln. Sikora hat die entdeckte Landschaft in zehn einzelne Kapitel gepackt. Man könnte auch zehn einzelne Reiseführer draus machen. Und so ungefähr muss es Sikora auch gegangen sein, denn seine Texte sind gespickt mit all den Informationen, die man für gewöhnlich in Reiseführern findet – zur Baugeschichte und zum Baustil, zu den früheren Besitzern, der urkundlichen Geschichte der Orte, zur Bergbaugeschichte, zu verlorenen Orten, zu Künstlern und berühmten Besuchern, zu Visionen, Unternehmensgründern, Architekten – ein regelrechtes Stakkato. Andere Regionen hätten aus jedem der einzelnen Kapitel eine fette Marketing-Kampagne gemacht.
Aber was für eine eigentlich?
Denn da Sikora immer wieder hüpft zwischen den Freuden der Erkundung mit Auto, Bahn, Fahrrad oder Wanderungen zu Fuß, wird zwar sichtbar, was man jeweils verpasst, wenn man sich nur für eine Fortbewegungsart entscheidet. Aber es erzählt auch davon, dass die Region in mancher Hinsicht schlecht erreichbar ist, weil manche einst wichtigen Bahnstrecken stillgelegt wurden, Radrouten abseits der großen Wege an den Flüssen fehlen. Es erzählt von der Unentschiedenheit in der übergeordneten Verkehrs- und Tourismuspolitik, die zwar die Wiederherstellung uralter Kulturstätten massiv gefördert hat, aber kein Konzept hat, wie diese Landschaften sinnvoll erschlossen werden können – für die Bewohner übrigens genauso wie für den (Tages-)Touristen.
Und das führt halt auch dazu, dass da und dort einfach zu viel des Guten passiert. Wohl auch, weil Bernd Sikora unbedingt alles erzählen wollte, nichts auslassen. Und wo man eben noch gemütlich aus der S-Bahn gestiegen ist (es gibt auch ein paar Hingucker, die sind von der S-Bahn aus gut erreichbar – nicht nur Altenburg und Zwickau mit ihrem Riesenangebot an Sehenswürdigkeiten), springt der Autor unverhofft ins Auto, um zum nächsten schmucken Örtchen zu gelangen, die Serpentinen zu bewundern und dann gleich wieder mit dem Rad weiterzufahren oder im Schweiße seines Angesichts auf den nächsten Burgberg zu steigen.
Das Ergebnis ist ein Buch, das erstmals in so einer Kompaktheit die erschlagende Fülle von Reisezielen im Leipziger Süden bis hinauf ins Erzgebirge erzählt und damit auch sichtbar macht, wie sehr sich Sachsen mit seiner Fixierung auf das barocke Dresden touristisch völlig unter Wert verkauft. Aber eigentlich drängt der Stoff eher zu einem Zehner-Set einzelner Reiseführer, ist für einen Bildband dieser Art schlicht mehr als genug. Da hätten zehn stimmungsvolle Essays, die das Prägnante dieser Landschaften erfassen, vielleicht besser gepasst. Zu jedem eine empfohlene Route – aus L-IZ-Sicht am liebsten mit S-Bahn-Anfahrt und Rad-Empfehlung. Den Rest erzählen eigentlich die Fotos von Peter Franke. Sie zeigen auf eine atmosphärische Weise, welch Kleinod von Land den Sachsen hier geschenkt wurde und wie beeindruckend sich Seen, Kirchen, Bäche und Felder, Fachwerkhäuser, tausendjährige Eichen, Brücken und Viadukte inszenieren lassen.
Und Franke ist nicht nur bei strahlendem Sonnenschein losgezogen, sondern hat auch die Dämmerstunden genutzt, und bspw. das Schloss Augustusburg in nächtlicher Beleuchtung eingefangen und Schneeberg – natürlich – im Schnee. Zu manchen Orten ist er extra im Frühjahr oder im Frühherbst gefahren, um abzulichten, was an architektonischer Schönheit sonst hinter üppigem Grün verschwunden wäre. Es sind vor allem die Fotos, die sichtbar machen, dass man in der Heimat von Stülpner Karl und Karl May unterwegs ist. Einer begnadeten Landschaft, auf mehrfache Weise – vom zerstörerischen Übertage-Bergbau verschont, von völlig falscher Regionalpolitik bislang auch. Was dann Constanze Schneider im Nachspann erwähnt, wo sie versucht, allein die Vielfalt der verschiedenen sächsischen Küchen in diesem dichten Stück Land zu beschreiben. Drumherum lauter Gasthöfe mit Adressen, wo man ab- oder aussteigen kann, um sich zu stärken. Aber sie hat dasselbe Problem wie Bernd Sikora: Wie presst man die Vielfalt in einen notwendigerweise knappen Text, wenn man über jede einzelne Küche ein ganzes Kochbuch schreiben könnte?
Fast ist man geneigt zu sagen: beneidenswerte Sachsen. Es gibt kaum einen Landstrich, der kulturell so viel auf so engem Raum zu bieten hat, der vom Reichtum der einstigen Wirtschaft zeugt und auch von der Sinnenfreude der Bewohner. Es ist ein völlig anderes Sachsen, als man es derzeit in den Medien erlebt, auch wenn das Buch erst einmal noch nicht für den großen Tourismus gedacht ist, sondern immer wieder den kleinen Tourismus anspricht: die Sehnsucht der Leipziger nach ganz viel Landschaft praktisch gleich vor der Haustür. Das lädt ein. Und wahrscheinlich wählt man seine Routen einfach nach den Fotos, mit denen Peter Franke dieses Stück Mitteldeutschland inszeniert hat, immer wieder gern gespiegelt in Stauseen, Teichen und dahinmäandernden Flüssen wie Mulde und Pleiße, die durchaus noch ihre naturbelassenen Partien haben und nicht so überlaufen sind wie der Leipziger Auwald, der unter dem wachsenden Nutzungsdruck auf die Fließgewässer sichtlich leidet. Aber man muss ja nicht in Leipzig bleiben, wenn die Wege in den Süden so einladend sind.
Bernd Sikora, Peter Franke: Unterwegs zwischen Leipzig und dem Erzgebirge, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2015, 29,90 Euro.
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