Mancher wird dieses Buch 1990 vielleicht verpasst haben. Da legte es der Piper Verlag vor - mitten in einer Zeit, als sich die Bücher, die sich kritisch mit der gerade absaufenden DDR beschäftigten, gegenseitig heftige Konkurrenz machten. Dabei ist es eine Leipzig-Geschichte, die ihre Faszination auch 26 Jahre später nicht eingebüßt hat. Immerhin erzählt es von einer der spektakulärsten Fluchten aus der DDR. Und nicht nur das.

Denn der Physiker Harald Fritzsch, der 1968 gerade in seiner Doktorarbeit steckte, war es auch, der zusammen mit seinem Freund Stefan Welzk jene legendäre Aktion am 20. Juni 1968 in der Kongresshalle organisierte, bei der mitten in einer Abschlussveranstaltung des Bachfestes das gelbe Transparent vom Bühnenboden herabrollte, das den Wiederaufbau der gerade drei Wochen vorher gesprengten Paulinerkirche forderte.

2.000 Teilnehmer der Veranstaltung sahen das Transparent und honorierten es mit sechsminütigem stehenden Applaus. Die Staatsmacht war düpiert. Der mächtige SED-Chef des Bezirks Leipzig, Paul Fröhlich, soll – so erzählt es zumindest Fritzsch – wenig später einen Infarkt erlitten haben, so heftig habe ihn diese freche Aktion getroffen. Denn er war es gewesen, der – nachdem SED-Chef Walter Ulbricht immer wieder gedrängt habe, den „sozialistischen Aufbau“ des Leipziger Zentrums endlich zu forcieren – die Sprengung der unversehrten Kirche St. Pauli veranlasste. Und zwar nicht nur, weil die SED kirchenfeindlich war, sondern auch als Beseitigung eines Treffpunkts der Opposition.

Und da war sich Fritzsch 1990 ganz mit Erich Loest einig: Als die Paulinerkirche zusammensank, erschien dahinter der Turm der Nikolaikirche. Die Opposition fand dort wenige Jahre später ein neues Obdach. Und mit der Sprengung von St. Pauli hatte Fröhlich im Grunde das Ende der DDR eingeläutet. Die Leipziger traf er damit ins Mark.

Doch als dann das gelbe Transparent in der Kongresshalle aufrollte, war Fritzsch klar, dass die Stasi von nun an nicht ruhen würde, die Verursacher dieses Streichs dingfest zu machen. Fritzsch und Welzk hatten zwar – ahnend, wie dicht das Netz der Informanten an der Uni Leipzig längst war – möglichst wenige Mitstreiter eingeweiht in ihr Vorhaben. Darunter natürlich Rudolf Treumann, der das Transparent gemalt hat. Und Welzk musste unbedingt auch den von ihm verehrten Dichter Peter Huchel einweihen.

Aber noch lange nach dem Juni 1968 war die Stasi ahnungslos. Später wurden völlig Unbeteiligte für die Tat in der Kongresshalle verurteilt. Da waren Fritzsch und Welzk längst mit einem Faltboot Richtung Bulgarien aufgebrochen und wagten auf einer Route über das Schwarze Meer die Flucht, auf der es vorher noch niemand versucht hatte. Und hinterher erst recht nicht. Denn als die geglückte Flucht der beiden Physiker in die Türkei bekannt wurde, verstopften die bulgarischen Sicherheitskräfte auch noch dieses Loch im Eisernen Vorhang.

Detailliert schildert Fritzsch, wie er sich schon seit Jahren mit dem Thema Flucht beschäftigte und die Pläne am Ende immer detaillierter wurden, auch wenn die beiden Freunde nach der Aktion in der Kongresshalle in ziemlicher Eile losfahren mussten. Und weil das durchaus aufregend ist, überliest man – wenn man zu schnell liest – in welcher Welt der angehende Physiker eigentlich zu Hause war, dass er bei seinem Studium in Leipzig durchaus noch die Aura des einst von Werner Heisenberg geprägten Physiklehrstuhls erlebte und sich intensiv mit den aktuellen Diskussionen beschäftigte, in denen der künftige Nobelpreisträger Murray Gell-Mann sich mit dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg auseinandersetzte – und am Ende Recht behalten sollte in der Theorie der Quarks.

Und dass es für Fritzsch ganz selbstverständlich war, dass er schon bald nach der geglückten Flucht mit den Spitzenphysikern der Welt zusammenarbeiten würde, liest sich so weg. Aber genau hier steckt die eigentliche Schizophrenie der DDR, die Leuten wie Fritzsch – der nicht bereit war, in die SED einzutreten und am Ende auch noch zum Informanten des MfS geworben werden sollte – selten echte Forschungskarrieren eröffnete. Vielleicht – so vermutet Fritzsch – wäre er irgendwo in der Industrie gelandet und versauert.

So aber wurden Quarks, Leptonen und Neutrinos sein Forschungsfeld, arbeitete er am CERN und veröffentlichte in den letzten Jahren auch noch einige populärwissenschaftliche Bücher, die durchaus für Furore sorgten: 2015 erst „Quantenfeldtheorie. Wie man beschreibt, was die Welt im Innersten zusammenhält“, 2012 „Mikrokosmos: Die Welt der kleinsten Teilchen“, 2008 „Eine Formel verändert die Welt: Newton, Einstein und die Relativitätstheorie” und „Quarks. Urstoff unserer Welt“ in neuer Auflage, lauter Bücher für alle Neugierigen, die wissen wollen, wo die Forscher heute bei der Erkundung der kleinsten Teilchen stehen.

„Sie irren, Einstein! Newton, Einstein, Heisenberg und Feynman diskutieren die Quantenphysik“ war ein ebenso eifrig diskutiertes Buch wie „Das absolut Unveränderliche: Die letzten Rätsel der Physik“. Aber schon die Bücherliste verrät: In der DDR hätte er das alles nicht machen können. Das kleine Land schnitt sich von seinen geistigen Ressourcen selber ab, verteilte Aufstiegschancen und Ressourcen nach Parteibuch und Angepasstheit – und maß seine klugen Köpfe nicht nach ihren Fähigkeiten, sondern daran, ob sie sich bedingungslos ein- und unterordneten. Oder eben nicht. Und wer sich nicht einordnete oder gar widersprach, der bekam es mit der Staatsmacht zu tun.

Dem blieb – wenn er sich nicht brechen lassen wollte – eigentlich nur die Flucht. Vielleicht sollte man den Aderlass, den die DDR in 40 Jahren erlebte, nicht mehr in Quantitäten messen, sondern in Qualitäten. Meist kennt man ja nur die Schriftsteller und Musiker, die mit großem Getöse im Westen empfangen wurden. Dass aber auch Hunderte Naturwissenschaftler, tausende Mediziner und Ingenieure flohen, das wird meist ausgeblendet. Auch weil sich selbst die Autoren der großen tragischen Bilanzen selten ausmalen können, dass auch in einem kleinen Land wie der DDR immer Bildung die wichtigste Ressource war.

Aber das sind schon wieder Nebengedanken. Die sich aber ergeben, wenn man hier liest, wie eng das in Leipzig – nicht nur für Fritzsch – alles miteinander verwoben war: Der Geist der großen Universität Leipzig, wo nicht nur Heisenberg lehrte, sondern – kurz vor Fritzschs Studienbeginn – auch noch legendäre Gestalten wie Bloch und Mayer, wo der Hörsaal 40 im alten Augusteum noch immer seinen Ruf hatte und die nur zum Teil zerstörte Universität mit den großen Zeiten der freien Universität des 19. Jahrhunderts verband. Nicht nur die Universitätskirche St. Pauli wurde ja 1968 gesprengt, sondern auch sämtliche noch erhaltenen Gebäude des benachbarten Augusteums.

Das Buch ist auch wichtig, weil es zeigt, dass es eben nicht nur Masur und Loest gab, vielleicht noch Pfarrer Führer, die Personen, auf die die Leipziger Widerständigkeit oft genug reduziert wird. Leipzig war immer viel reicher an kritischen Köpfen und rebellischem Geist. Und genau dieser Geist sollte 1968 getroffen werden, als Paul Fröhlich die Universitätskirche sprengen ließ. Aus seiner Sicht als so eine Art Schlusspunkt all seiner Attacken, die er vorher schon gegen die Universität geritten hatte.

Dass es der Beginn von etwas völlig Neuem sein würde, hat der Funktionär wohl am 20. Juni 1968 begriffen, auch wenn er erst zwei Jahre später starb. Aber bis dahin galt er durchaus noch als Kronprinz von Walter Ulbricht, und er hätte das Land noch ganz anders heruntergewirtschaftet, als es dann der deutlich konziliantere Erich Honecker tat.

Ein kleines Interview von Thomas Mayer mit Harald Fritzsch ergänzt das Buch genauso wie die Fotoserie von Karin Wieckhorst vom 30. Mai 1968, die – trotz Fotoverbots – die Sprengung der Paulinerkirche vom Grassi-Museum aus festhielt. Über sein eigenes Entsetzen und das vieler anderer Leipziger berichtet dann Fritzsch im Textteil ebenfalls.

Harald Fritzsch: Flucht aus Leipzig, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2016, 16 Euro.

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