Früher gab es in Kinderbüchern nur brave Kinder, die am Ende der Geschichte immer für ihr Bravsein belohnt wurden. Ab und an gab es dann ein paar böse Buben wie im Struwwelpeter, die für ihre Bosheit stantepede und meist sehr grausam bestraft wurden. Fridas gab es damals nicht. Jedenfalls nicht in den Kinderbüchern. Kleine freche Mädchen, die auch gern mal einen plattgefahrenen Frosch einpacken, wenn sie ihn am Straßenrand finden.
Und so einen Frosch muss man zeigen. Wer hat schon sowas? – Malte wird sich freuen. Malte muss den Frosch sehen. Sofort. Auf der Stelle. – Wer kennt das nicht, dieses Leben im absoluten Jetzt, in dem nichts aufgeschoben werden kann, in dem es einem in Füßen und Händen krabbelt, weil etwas unbedingt gleich getan werden muss, weil es sonst … Nein, so weit denkt man noch nicht, wenn man in Fridas Alter ist. Da ist das ganze Leben jetzt sofort und nur die Erwachsenen kommen nicht aus dem Knick, pusseln hier herum, werkeln da, sagen: „Es gibt gleich Essen.“ Und dann wird aus dem Gleich eine ganze Stunde, ein ganzer Tag, eine Ewigkeit. Man könnte platzen, mit Türen batzen, das Spielzeug in die Ecke knallen, richtig wütend sein.
Eltern kennen das, wenn ein einziges Wort genügt, und der kleine Sonnenschein verwandelt sich vor ihren Augen in ein kleines, wütendes Tier, in ein einziges finsteres Wüten, weil es mit seinem gerade allerwichtigsten Wunsch gegen so ein verflixtes erwachsenes „Nein“ oder „Gleich“ oder „Später“ geprallt ist. Weil Erwachsene immer noch irgendwas anderes tun müssen, völlig unwichtiger Kram, wenn doch jetzt unbedingt sofort der Malte den Frosch zu sehen bekommen muss.
Jetzt.
Dieses herrliche, böse Jetzt, das sofort in alle Glieder fährt. Jetzt muss aber …
Aber was?
Meistens passiert dann etwas ganz Schreckliches. Eltern wissen das und haben vorsorglich alles, was zerbrechlich ist, aus dem Kinderzimmer geräumt. Erfahrene Eltern sind dann gespannt wie Flitzebogen und lauschen wie Luchse, ob jetzt gleich verdächtige Geräusche zu hören sind, bei denen sie eingreifen müssen.
Aber Fridas Mama scheint so eine echte coole Schwedin zu sein, so wie die Autorin Ingrid Olsson, die sich die Geschichte ausgedacht hat, oder die Grafikerin Charlotte Ramel, die die Geschichte mit Buntstiften in Bilder verwandelt hat. Fridas Mama ist ganz auf die Essenvorbereitung konzentriert. Vielleicht hat sie sich heute auch entschlossen, der kleinen Frida ein bisschen zu zeigen, dass Gleich nicht gleich Gleich ist. Das eine Gleich ist länger, das andere kürzer. Und trotzdem unterscheidet es sich vom Sofort und vom Später sowieso.
Die Erwachsenen und ihr Zeitverständnis! Es ist zum Haareraufen und zum Mäusemelken (nicht nur für Kinder, da können Sie sicher sein, für Erwachsene auch. Deswegen sei in dieser Geschichte auch die völlige Abwesenheit von Papa vermerkt: Entweder kommt er gleich. Oder später. Oder er hat die Faxen dicke gehabt, weil er mit dem Gleich von Mama einfach nicht zurechtkam.)
Später kommt zwar noch ein Papa hereinspaziert – aber das ist Maltes Papa, was den Verdacht nahelegt, dass auch Maltes Mama und Maltes Papa … Nicht auszudenken: Immer dieses Gleich, von dem der Alltag in kleinen Familien immer angefüllt ist bis zum Rand. Haufenweise sind Dinge zu tun, sind Eltern mit all dem langweiligen Kram beschäftigt wie Putzen, Kochen, Aufräumen. „Gleich!“
Aber dann müssen sie auch noch Telefonieren, Tisch decken, im Ofen blubbert das Essen.
Und es kommt, wie es kommen muss: Frida rastet aus. Und stellt was an. Man sieht richtig, wie das in ihr brodelt und wütet.
Da dürften sich wirklich jede Menge Kinder wiedererkennen. In ihrer Wut und dann, wenn’s passiert ist, in ihrem Erschrecken. Denn wenn man so richtig im Brass ist, will man ja so richtig was ganz Schlimmes anstellen.
Und hinterher bereut man es schrecklich.
Bei Heinrich Hoffmann würde an der Stelle irgendein strenger Bestrafer kommen mit einer Riesenschere oder mit langem Zeigefinger. Bei Olsson und Ramel geht das ein bisschen anders aus. Da sind gleich zweie traurig, wie das so ist im Leben. Wenn man wütend ist, bestraft man immer gleich zwei. Es ist eine kleine Geschichte, in der unsere großen Geschichten stecken. Denn Mancher lernt das im Leben nicht und läuft mit einem Bauch voller Wut durch die Welt – ohne Rücksicht, ohne Gewissensbisse. Für den ist das „Gleich“ noch immer wie eine Drohung, etwas Unzumutbares. Und dann explodiert er, zeigt’s mal allen und stellt sich hin wie ein trotziger alter Mann: „Muss man doch mal sagen dürfen.“
Muss man?
Es ist schon erstaunlich, wie viele alt gewordene Leute völlig verpasst haben, auch noch erwachsen zu werden. Denn dazu gehört nun mal so ein kleines, warmes Gefühl, wenn wir ahnen, dass unsere Wut auch andere trifft, unsere Ungeduld sowieso. Wie wir einander auf die Nerven gehen können, weil jeder in einem anderen Jetzt und einem anderen Gleich wohnt. Manche sind regelrecht außer sich, da muss jedes Gleich ein Sofort sein. Wie ein Befehl. „Und wenn nicht …“
Und genau das steckt in so einer kleinen Geschichte, die der Autorin wahrscheinlich geradezu über die Füße purzelte. Samt kesser Moral am Schluss, wenn mal nicht Mama diejenige ist, die „Gleich“ sagt, sondern Frida.
Ingrid Olsson, Charlotte Ramel Gleich, sagt Mama, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2016, 13,95 Euro.
Das Buch erscheint am 18. März 2016.
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