Die Idee liegt eigentlich auf der Hand. Es gibt wissbegierige Reisende, die wollen sich nicht einfach nur die üblichen „Highlights“ angucken, wenn sie in deutsche Landschaften fahren, die sind an Themen, Zeiten und Geschichte interessiert. Selbst diesem seltsamen Kapitel SBZ und DDR, das man nun wirklich nur im deutschen Osten besichtigen kann. Frustrationserlebnis garantiert.
Was jetzt mal nicht die Ahnungslosen aus den Tälern betrifft, denen man zuweilen auf den Straßen begegnen kann. Aber es hat miteinander zu tun, mehr als es die Lauten und Lärmenden sich jemals eingestehen würden. Denn die DDR war ein Land der Verweigerung.
Ein Land der Abschottung, Verbunkerung, Tarnung und Uniformierung sowieso. Das wird auf frustrierende Weise klar, wenn man Martin Kaule auf dieser Rundtour durch Sachsen folgt. Es ist nicht der erste taschenschmale Reiseführer aus dem Ch. Links Verlag, der das Bundesland thematisch und historisch aufbereitet. 2011 ist von Sabine Knopf der ganz speziell für Leipzig gemachte Reiseführer „Buchstadt Leipzig“ erschienen, der die Neugierigen an über 100 historische Orte in der Stadt führt, an denen man noch Spuren der alten Verlagssitze, der Druckereien, der Verlegervillen und -wohnungen findet. Ein abgeschlossenes Kapitel. Für Manche auch ein Sehnsuchtskapitel. Aber in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges hat sich die Buchstadt endgültig in verbranntes Papier und geschmolzenes Blei aufgelöst.
Was zum nächsten Bändchen führt. Das erschien 2014 und versammelte die baulichen Spuren aus der Nazi-Zeit in Sachsen: „Sachsen 1933 – 1945“ von Mike Schmeitzer und Francesca Weil. Ein Buch zum Gruseln und zum Grausen. Aber wichtig. Denn auch, was übrig blieb aus dieser Phase der blutigen Diktatur, mahnt, muss gesehen, besichtigt und erinnert werden können. Das „Nie wieder!“ ist nach wie vor gültig, auch wenn ein paar Leute glauben, das sei alles 1990 mit dem verordneten Antifaschismus entsorgt worden. Manche lernen einfach nichts. Schon gar nicht aus der Geschichte.
Und das gilt auch für die Etappe, die Martin Kaule in diesem Bändchen versammelt hat mit über 100 Orten in ganz Sachsen. Man kann sich regelrechte Besichtigungstouren zusammenstellen – etwa auf Grundlage der drei Karten, die es zu den drei Kapiteln im Buch gibt: Südwestsachsen, Nord- und Mittelsachsen und Ostsachsen. Wobei man dafür eine gewisse Abgebrühtheit braucht – nicht nur architektonisch. Denn natürlich sind auch die Perlen der DDR-Architektur drin vom Zuckerbäckerstil der Stalin-Zeit (wie der Ringbebauung in Leipzig am Roßplatz) bis zu ein paar der Plattenbaugebiete, die seinerzeit als Glanzlichter der DDR-Wohnungsbaupolitik gefeiert wurden und nach dem großen Kofferpacken nach 1990 in größeren Teilen „zurückgebaut“ wurden – so wie das Neubaugebiet „Fritz Heckert“ in Chemnitz oder die zweite Modellstadt der DDR (nach Stalin- bzw. Eisenhüttenstadt): Hoyerswerda, seit 1991 berühmt durch das damalige Progrom, das bis heute nicht „erledigt“ ist, weil es etlichen Regierungsverantwortlichen in Sachsen eben kein Fanal war, kein Menetekel. Sie haben es einfach vergessen, verdrängt und verharmlost, obwohl genau hier deutlich wurde, was passiert, wenn Menschen 40 Jahre lang gepampert werden und niemand ihnen wirklich zumutet, sich mit der Geschichte und den „Dimensionen des Rechtsextremismus“ („Mitte-Studien“) tatsächlich zu beschäftigen. Denn: Man war ja „Sieger der Geschichte“. Es wurde den Jungen Pionieren und FDJlern eingetrichtert bis zur Langeweile.
Deswegen werden diverse Pionierferienlager und FDJ-Funktionärs-Ausbildungsstätten zumindest erwähnt, ganz ähnlich wie die Hochschulen für die Parteifunktionäre, die Kulturfunktionäre, die LPG-Vorsitzenden. Man bekommt ziemlich schnell so ein Gefühl der Übersättung von diesem Funktionärsstaat, selbst wenn man weiß, dass das, was Kaule zeigt, nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was es damals gab. Wenn alte Schlösser, Burgen und Herrensitze nicht als Kindergarten, Schule oder Altersheim genutzt wurden, dann steckten unter Garantie diverse Funktionärsschulen, Parteiheime oder Gefängnisse drin.
Womit man bei der ganzen Landschaft mittlerweile berühmter und berüchtigter Zuchthäuser, Frauengefängnisse, Jugendwerkhöfe und MfS-Untersuchungsgefängnisse und Hinrichtungsstätten wäre. Davon ist eine Menge heutzutage zu besichtigen, da und dort überlappt die durch zahlreiche Biografien belegte Geschichte der DDR-Zeit die graue oder braune Vorzeit. Denn etliche dieser „Erziehungsanstalten“ haben die Zeiten und die Herrscher überlebt und jede neue Regierung fand sie auf ihre Weise nützlich, um die Dissidenten und Unangepassten ihrer Zeit einzusperren und mundtot zu machen.
Wenn man das formuliert, fällt einem natürlich auch die Königs- und die Kaiserzeit in Sachsen ein, als die Mächtigen ebenso gern Zuchthausstrafen verhängten über alle, die sich auch nur wagten, liberales, demokratisches oder gar sozialdemokratisches Gedankengut zu äußern. Es würde also durchaus Sinn machen, auch Bändchen mit Jahreszahlen wie „Sachsen 1871 – 1918“ und „Sachsen 1694 – 1870“herauszubringen. Und man muss sich auch dabei nicht unbedingt nur auf die Staatsgefangenen konzentrieren, wird aber feststellen, dass ausgerechnet Zuchthäuser und andere Staatsgefängnisse die Zeiten immer besonders prächtig überdauert haben.
Für die SBZ und die DDR fällt das natürlich besonders auf, weil sich viele Initiativen bemüht haben, diese Orte der Verdammnis als Erinnerungsstätte zu bewahren und auch für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen – nicht nur in Bautzen. Bestrebungen gibt es auch für Hoheneck, Waldheim, die Hinrichtungsstätte in der Kästnerstraße in Leipzig oder das Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz. Oft sind die Gefängnisse und Untersuchungsanstalten auch heute weiter in Betrieb, erinnern nur Tafeln an den Außenmauern an die dunklen Kapitel.
Kann man natürlich fragen: Gibt es denn nichts Schönes aus der DDR-Zeit zu sehen?
Kommt drauf an, wie man es sieht. DDR-Architektur hat natürlich überall überlebt. Im Grunde gibt es keine Stadt, die nicht ihr Neubaugebiet in Plattenbauweise bekommen hat, keine Großstadt, die nicht entweder einen modernistischen Kulturpalast bekommen hat (Dresden) oder die sozialistische Stadtdominante in Form eines Hochhauses (Weisheitszahn in Leipzig). Jedes Kombinat (die Herkunft des Wortes erklärt Kaule auch) bekam sein Kulturhaus – auch wenn die meisten dieser Einrichtungen nach 1990 mit den stillgelegten Fabriken verschwanden. Aber das Kulturhaus Böhlen ist heute ein kultureller Leuchtpunkt im Leipziger Südraum. Manches vermisst man, obwohl es für seine Zeit ein echter Solitär ist – wie das Leipziger Opernhaus. Dafür ist der Gewandhausneubau drin, ebenso wie die wiederhergestellte Blechbüchse am Goerdelerring. Denn Manches, was in DDR-Zeiten einfach als Provisorium gebaut wurde oder als fettes sozialistisches Wahrzeichen – wie der „Nischel“ in Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt -, ist für die Bewohner der Orte zum identitätsstiftenden Stück Stadt geworden.
Also aufatmen?
Nicht wirklich.
Denn Kaule führt die Leser auch an die Orte, wo die Funktionäre und Offiziere der DDR einst glaubten, den nächsten Krieg überleben zu können oder wenigstens die ersten Tage, um dann aus ihren Führungsbunkern heraus noch irgendwas befehlen zu können. Etliche dieser Bunker wurden nach 1989 bekannt. Einige können besichtigt werden – zumindest von Besuchern, die nicht unter Klaustrophobie leiden und in diesen Relikten des Kalten Krieges, der immer auch die Vorbereitung auf einen Heißen Krieg war, nicht das blanke Grausen bekommen. Allein die Zahlen, die Kaule nennt, machen deutlich, was für ein Wahn das Land im Griff hielt und wie es längst verplant war als Vorfeld des großen Gegenschlages. Da stellt man sich in diesen engen Betonbauten unter der Erde die ergrauten, längst entscheidungsunfähigen Funktionäre der späten DDR-Zeit vor und fragt sich: Was hätten diese Tattergreise da eigentlich noch befehlen wollen?
Ein Gespenstertanz. Der übrigens die DDR Milliarden kostete, die für MfS, SED und NVA einfach abgezweigt wurden – auch das trug zum Niedergang der Volkswirtschaft bei. Es ist also irgendwie die Reise in ein verschwundenes Land. Da es vor allem um gebaute Erinnerung geht, steht der untergegangene Staatsapparat augenfällig im Zentrum des Ganzen. Das trifft auch auf derart gefühlsschwangere Orte wie das Agra-Gelände in Leipzig, den Sowjetischen Pavillon oder das „Stadion der Hunderttausend“ zu. Tatsächlich ist es sogar beruhigend, dass auch die Erinnerungsorte an den Herbst 1989 ihren Platz im Reiseführer gefunden haben. Bis hin zum heiß debattierten Freiheits- und Einheitsdenkmal, das einige Leute unbedingt auf den Wilhelm-Leuschner-Platz setzen wollten. Das Thema ist offen. Und zumindest in Leipzig ist man gespannt, wie ungeschickt die Befürworter beim nächsten Mal vorgehen werden.
Denn auch das zeigt das Bändchen: Eigentlich gibt es schon jede Menge Denkmale und Erinnerungsorte – auch in Leipzig. Manchmal bekommt man schlicht das Gefühl, dass es nun reicht, dass man nicht den ganzen öffentlichen Raum zuklatschen sollte mit Denkmalen, wenn es (wie in Leipzig) einfach genügt, die Nikolaikirche zu besuchen, die Runde Ecke oder das Zeitgeschichtliche Forum. Und ein wenig schwingt in der Leipziger Abwehr auch das Gefühl mit, dass man in den 45 Jahren SBZ/DDR eh schon genug mit Denkmalen genervt wurde. Der öffentliche Raum muss nicht überall mit politischer Bedeutung aufgeladen werden. Wichtiger ist es, eine gute Politik zu machen. Da muss man sich nicht hinter Kulten und Denkmalen verstecken.
Martin Kaule: Sachsen 1945 – 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 2015, 15 Euro.
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