Es gibt keine Stadt, die mit Bildern weltweit so präsent ist wie New York. Daran haben amerikanische Filme ihren Anteil, die immer wieder eine Ecke dieser Millionenmetropole als Kulisse wählen. Und so war auch Mathias Bertram schon in New York, noch ehe er sich in den Flieger setzte, um selbst einmal neuneinhalb Tage durch die Stadt zu streifen.

Beim Lehmstedt Verlag ist der Buchgestalter seit 2003 der künstlerische Leiter, sorgt also dafür, dass die Bücher aus dem Leipziger Verlag so aussehen, wie ordentliche Bücher aussehen müssen. Tatsächlich ist er dort viel mehr, denn er fungiert auch als Herausgeber für all die eindrucksvollen Bildbände mit Fotografien der besten DDR-Fotografen (nicht allen – da würde Mark Lehmstedt wahrscheinlich Purzelbäume schlagen, wenn er wirklich alle namhaften DDR-Spitzenfotografen im Programm hätte). Aber mit Bertram hat er einen profunden Kenner der Szene, der auch selber weiß, was Spitzenfotografie ist.

2013 hat er schon einmal gezeigt, dass er selbst auch so ein Faible für die besondere Fotografie hat. Da hat er im Lehmstedt Verlag den Band „Galerie der Straße“ veröffentlicht. Einen  Band, der im Grunde so eine Botschaft direkt aus der Werkstatt war: Fotografieren lernt man nicht, wenn man ablichtet, was alle ablichten. Bevor man auf Entdeckungstour geht, sollte man gelernt haben zu sehen. Hinzusehen, die Dinge zu erfassen, das Besondere zu erkennen und es dann auch mit der Linse so zu erfassen, dass das Besondere auch für den Betrachter der Fotos sichtbar wird.

Da sind dann auch neuneinhalb Tage in New York nicht zu wenig. Obwohl sie natürlich trotzdem zu wenig sind. Für diese Stadt braucht man wahrscheinlich ein Menschenleben, um sie wirklich einmal ganz zu erleben. Und man könnte Bildband um Bildband füllen und würde die Leser doch nicht satt machen. Das schaffen nicht viele Städte.

Eigentlich bringt man von so einer Tour Fotos für einen weiteren fetten Bildband mit. Aber Mathias Bertram hat sich auf eine kleine Auswahl beschränkt. Und es ist auch kein Big-Apple-Buch geworden, wie man es kennt. Das merkt man, wenn man mit Mathias Bertram durch die Straßen von Williamsburg, Chelsea oder über den Broadway läuft. Ein Foto hat er extra mit Widmung versehen, um sichtbar zu machen, aus welchem Kanon der modernen Fotografie er seine Anregungen holt – in diesem Fall ist es ein Schaufenster-Foto, das er Amélie Losier gewidmet hat.

Aber er hätte viele der Bilder auch all jenen Fotografinnen und Fotografen widmen können, die er im Lehmstedt Verlag schon betreut hat, denn viele dieser Blickweisen kennt man gerade aus den Bildbänden der Berlin-Fotografen – sei es das frappierende Detail aus dem Hinterhof, aus dem Szene-Laden oder dem Park, seien es die Wartenden an Haltestellen, die Schachspieler im Park, die Szene-Cafés oder die eindrucksvollen Bilder der U-Bahn, der Viadukte, der Straßenkünstler.

Es ist der Blick des Großstadt-Fotografen, der im Fremden das Vertraute wiederentdeckt und vor allem das, was auch die Berlin-Fotografen immer wieder zeigen: Wie sehr das Leben in der Großstadt Inszenierung ist. Denn eigentlich kommt ja der Mensch gegen die gewaltigen gebauten Räume nicht an. Sie sind viel zu groß, viel zu technisch, viel zu monströs, um überhaupt nach menschlichen Maßstäben abzubilden. Aber Bertram war dann auch nicht der erste Besucher, der sich über die Gelassenheit der New Yorker gewundert hat. Wenn man aus Berlin kommt, muss das wohl noch extra auffallen. Die ganze Verbissenheit, das Getriebensein, die permanente Verunsicherung fehlen. Als hätten die Bewohner der Riesenstadt einfach gelernt, mit dem Riesending zu leben und sich ihre Räume zu suchen, in denen sie wieder sie selbst sind.

Auf gelassene Art erzählen Bertrams Bilder also von einem eklatanten Widerspruch, der augenscheinlich in deutschen Städten unübersehbar ist. Nicht nur in Berlin, mittlerweile ja auch in einer eher überschaubaren Stadt wie Leipzig, wo die Gelassenheit früherer Jahre einer seltsamen Eifrigkeit und Geschäftigkeit gewichen ist, als hätten sich die Bewohner angewöhnt, immerfort in Eile zu sein, Wichtigkeit und Zeitnot ausstrahlen zu müssen. Je langsamer die Straßenbahnen zuckeln, umso heftiger wird herumgezappelt, gestöhnt, gedrängelt. Als ginge irgendwo anders ein Geschäft den Bach runter, gingen lauter Termine und Dringlichkeiten flöten.

Oder – was vielleicht schlimmer ist – als wären wir dieser Tage allesamt auf der Flucht. Flüchtlinge im eigenen Land, die es nicht mehr aushalten, innezuhalten, stehenzubleiben für ein Schwätzchen, einen Sonnenstrahl, einen Moment auf der Bank. Als wären wir alle unter einem enormen Rechtfertigungsdruck für unser öffentliches Auftauchen. Nur nicht anmerken lassen, dass wir vielleicht auch mal 5 Minuten Leerlauf haben könnten. Wir doch nicht. Wir sind doch fleißig. Uns erwischt keiner auch nur bei einem einzigen Moment der Unaufmerksamkeit.

Wahrscheinlich ging es Bertram genau so, wo er doch ein eher hektisches New York erwartet hatte mit hohem Tempo auf allen Fußwegen, lauter geschäftigen Leuten und einem wilden Durcheinander der Farben, Sprachen, Kulturen. Und dann diese Gelassenheit.

Die natürlich auch dadurch sichtbarer wird, weil Bertram die üblichen Sehenswürdigkeiten eher sparsam berührt hat, lieber mal nach Brooklyn Heights fuhr, zur Bronx oder auch mal ins Museum of Modern Art. Vielleicht steckt darin tatsächlich auch ein Blick auf die Stadt, wie sie künftig sein muss – weniger autoaffin, mit Menschen, die die öffentlichen Räume wieder in Anspruch nehmen. Man vergisst es ja immer wieder so schnell, dass die Städte eigentlich für den Menschen gebaut wurden, nicht für die StVO. Und vielleicht sieht man das als Berliner schon deutlicher als andere. Auch weil man die Verluste an Gelassenheit (die durch die berühmte Schnoddrigkeit der Berliner nicht aufgewogen werden können) deutlicher spürt – und schon länger spürt als etwa die Bewohner von München oder Leipzig. Da lohnt sich schon mal ein Kurztrip nach New York, um sich zu vergewissern: Es geht auch anders. Ohne die hiesige Verbissenheit.

So entstand ein kleiner Bildband, der einerseits das Fremde vertraut erscheinen lässt, andererseits auch zuversichtlich macht: Große Städte müssen nicht dem Irrsinn verfallen. Im Gegenteil. Sie bleiben selbst dann gelassen, wenn in der Provinz die Gemüter kochen.

Mathias Bertram 9 1/2 Tage New York, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 14,90 Euro.

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