Fast hätte ich hier geschrieben: „Wer kennt das nicht ...“ Aber so ganz abwegig ist es wohl nicht, wenn man sich derzeit die sächsischen Landschaften so anschaut: So ganz heil scheinen die Welten nicht zu sein. Was drinnen kochte, brodelte und kriselte, ist nun nach draußen gekippt. Aber wer eine friedlichere Welt will, muss zu Hause anfangen. Bei sich und den Kindern.

Aber zuallererst bei sich. Auch wenn diese Geschichte erst einmal wieder da beginnt, wo alle Geschichten beginnen: bei Klein. Die schwedische Zeichnerin und Autorin schlüpft gleich einmal raus aus den scheinbar so klaren Rollen: Mama, Papa, Kind. Schon wenn man das aufzählt, entstehen falsche Bilder.

Das kennt so mancher. Denn als Kind denkt man sich ja nicht als Kind. Vielleicht als Ich. Vielleicht als Klein. Ein neugieriges Wesen, das erst einmal herausbekommen muss, wie das alles funktioniert im Leben. Und manchmal zu lange braucht, manchmal was falsch macht, manchmal zu neugierig ist. Und manchmal auch bestraft wird dafür, ohne zu ahnen, warum, ohne Erklärung.

Und dann ist da noch der Blick auf die Großen, die aus der Zwergenperspektive natürlich auch als groß und stark erscheinen. Nicht immer als klug. Oft als rätselhaft. Manchmal als abweisend, aufbrausend, unnahbar, zornig.

Klein weiß ja nicht, was da los ist. Erst recht, wenn Groß und Stark nicht darüber reden können. Und auch mit Klein nicht darüber reden. Das gibt es nicht nur in Schweden. Das gibt es auch in Sachsen. Die Jugendämter können ein Lied davon singen. Ein trauriges Lied, denn manchmal kommen sie zu spät. Denn eines weiß man zumindest dort: Viele der Großen und Starken, die sich so gern groß und stark zeigen, sind es nicht, sind eher hilflos und sprachlos, wenn es um Gefühle geht. Ziemlich viele. Nicht alle werden ein Fall. Viele glauben, ihre Art, nicht zu reden, sei die normale. Nur die Anderen machten alles falsch. Und man müsste es ihnen eintrichtern. Regelrecht. Ein Land mit Erwachsenen, die eigentlich nicht erwachsen werden wollten, ist ein gefundenes Fressen für Scharfmacher, Scharfwürzer und Scharfrichter.

Vor 25 Jahren wäre eine gute Gelegenheit gewesen, erwachsen zu werden. Das haben viele verpasst. Und sehnen sich zurück in ein Vaterland, das ihnen das Großsein und Starksein wieder abnimmt. Erzogene Untertanen.

Und das gibt es in Schweden auch?

Soll es geben. Nur weil ein Land erwachsen geworden ist, heißt das ja nicht, dass auch alle Leute erwachsen geworden sind. Auch nicht die, die sich zusammentun und Kinder bekommen. Und dann doch nicht aushalten, miteinander zu sein.

Eigentlich macht Stina Wirsén etwas ganz Einfaches: Sie zeichnet einfach, wie Klein das erlebt. Ohne erwachsene Weisheit, ohne die schönen Worte, die das immer zutünchen: Mama, Papa, Familie. Nur weil drei zusammen sind, müssen sie noch lange keine Familie sein. Das wollen manche einfach nicht wahrhaben. Und merken nicht, wie sie das Nicht-wissen-Wollen zerstört, wie sie sich fremd sind und ihre Unsicherheit aneinander auslassen: mit lauten Worten, mit heftigem Streit, mit Vorwürfen, Beschuldigungen, Erniedrigen und Anfeinden. Ohne an Klein zu denken, das das alles erlebt. Das schon schlimme Ahnungen bekommt, wenn Stark mit so einer komischen Laune zum Kindergarten kommt, um Klein abzuholen. Klein spürt das. Denn es muss das jetzt alles aushalten. Und zu Hause geht das erst richtig los, wenn Groß und Stark einander anschreien. Da wird es laut. Und Klein ist mittendrin. Und kann sich am Ende nur noch verstecken unterm Tisch. Und nachher geht Groß. Und alles ist kaputt. Und Stark ist traurig.

Eine Geschichte, die mancher wohl kennt. Mancher erinnert sich dran und versucht es zu verstehen. Aber das Normale ist wohl eher, dass sich die Großen nicht mehr gern daran erinnern. Oder es sogar vergessen haben und auch nicht aufschrecken, wenn sie sich selbst so verhalten. Denn das pflanzt sich fort, wenn es nicht ausgesprochen wird und begriffen. Das sitzt als große Angst im Zwerchfell. Und wird, wenn das Kleine im Großen Angst bekommt, zu Zorn und Wut.

Bilder, die wir jetzt auf allen Kanälen sehen: Große, die Kleinen Angst machen. Weil sie selbst Angst haben, aber nicht sagen können, wovor und warum. Und seit wann.

Hat einer gesagt, dass das Land hier früher mal ein friedvolles Land war? Eine schöne Lüge. Um zu lernen, friedlich zu sein, muss man sich seinen Alpträumen und Ängsten stellen.

Oder – darauf hat Alice Miller ja immer wieder hingewiesen – Helfer finden, die einen auch als Klein akzeptieren, trösten und zuhören.

Denn Gefühle, die nie benannt werden dürfen, werden zur Zeitbombe.

Und deswegen erzählt Stina Wirsén am Ende auch, wie Klein geholfen wird. Man möchte es sich eigentlich wünschen, dass das auch hierzulande so möglich wäre, dass Frau Traulich im Kindergarten die Zeit hat, zuzuhören und zu verstehen. Hat sie das, wenn sie 20 Kinder betreuen muss? Ich zweifle dran. Wer also sonst noch? – Jemand aus der Nachbarschaft. Das braucht zumindest funktionierende Nachbarschaften, in denen jemand auch zuhört und nicht gleich wieder recht behalten will.

In dieser Geschichte wird Klein geholfen. Das Buch ist ein liebevoller Appell an Große und Starke, denen oft auch nicht bewusst ist, dass es vielen Kleins so geht. Die nicht gelernt haben, zuzuhören und zu trösten. Es gibt was zu lernen. Etwas viel Wichtigeres, als perfekt und erfolgreich zu sein. Und eigentlich fängt jeder mal klein an. Und ein Land, das keinen Platz lässt für das Verstehen, wird ein ungemütliches und boshaftes Land. Familie, dieses viel zu große Wort, fängt ganz klein an: da, wo man den Kleinen zuhört und aufhört zu schreien, weil man bisher glaubte, immer recht gehabt haben zu müssen.

Das hat zumindest mancher schon mal gehört: Wer schreit, ist im Unrecht. Und vor allem will er ja nur eins erreichen, auch wenn er das nie glaubt: Dass alle anderen verstummen und überhaupt nichts mehr sagen dürfen. Damit nur noch er gehört wird.

Ein bisschen mehr Schweden täte uns tatsächlich gut.

Stina Wirsén: Klein, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2016, 9,95 Euro.

Das Buch erscheint am 18. März 2016.

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