Den Mann kennt jeder. Von „Brehms Thierleben“ hat jeder schon mal gehört. Mancher hat zu Hause auch die alten oder diverse neuere Ausgaben stehen, schaut rein, schmunzelt und freut sich an den Bildern, die oft vom Leipziger Grafiker Robert Kretschmer stammen. Die Wenigsten wissen, wie eng „Brehms Thierleben“ mit der Stadt Leipzig verbunden ist.

Auch wenn dieses Buch erst einmal nach Renthendorf in Thüringen entführt, dorthin, wo der Vater von Alfred Edmund Brehm, Christian Ludwig Brehm, als Pfarrer tätig war, aber so nebenbei das betrieb, was viele protestantische Pastoren damals in deutschen Landen betrieben: Forschung. Einige wurden als Heimatkundler berühmt, andere als Geologen, Volkskundler oder Literaturforscher. Und dieser Christian Ludwig machte sich einen Namen als Vogelkundler. Von seinen Nachbarn als „Vogelpastor“ bezeichnet, von der wissenschaftlichen Welt hoch geachtet. Bevor sein Sohnemann Alfred zu seinen ersten Reisen aufbrach, war der Name Brehm mit ihm verbunden. Und als Ornithologe war Sohn Alfred im Grunde dicht daran, in Vaters Fußstapfen zu treten.

Hätte er nicht ein besonderes Talent besessen.

Er konnte die Tiere und das, was er bei ihnen beobachtete, bildhaft beschreiben.

Dazu kam noch, dass er es in Verhältnissen, in denen er sich fügen musste, nie lange aushielt. Nicht als Zoodirektor in Hamburg, nicht als Lehrer in Leipzig. Nach Leipzig kam er 1858, direkt nach seiner zweiten Reise, die ihn nach Spanien geführt hatte. Sein Onkel Moritz Alexander Zille hatte ihm eine Anstellung als Lehrer für Geografie und Naturwissenschaft am „Gesamt-Gymnasium mit Höherer Töchterschule“ verschafft, die er selbst leitete. Das befand sich damals im „Goldenen Hirsch“ in der Petersstraße mit Durchgang zum Peterskirchhof. Brehm hatte seine Wohnung anfangs am Neumarkt, da, wo heute das „Schrödter-Haus“ steht, bevor er an den Königsplatz und später in die heutige Sternwartenstraße (damals Holzgasse) umzog.

Alfred Brehm als Geografielehrer. Da würden heute die Schüler Schlange stehen. Aber damals konnten sie zwar wissen, dass er schon zwei Expeditionen hinter sich hatte, einen Doktortitel trug und schon erste Veröffentlichungen vorzuweisen hatte. Aber auch das gilt: Für Lehrer war es damals fast normal, sich einen Doktortitel zu erwerben und selbst zu forschen. Für einen wie Brehm war das Lehrersein eher ein notwendiger Broterwerb. Er träumte von mehr. Und als er 1862 wegging aus Leipzig, war sein Ziel Hamburg, wo er Direktor des Zoologischen Gartens wurde.

Bewerbe sich heute mal einer als Lehrer auf den Direktorenposten in einem Zoo.

Aber Leipzig war auch ein Ort, wo Brehm Kontakte fürs Leben knüpfte. Zu Emil Adolf Roßmäßler zum Beispiel, dem Mann, der in Leipzig viel zu oft vergessen wird, auch weil die Stadtobrigkeit mit dem, was diesen Roßmäßler umtrieb, selten etwas anfangen konnte. Sein wichtigstes Projekt, auf das er Jahrzehnte lang hinarbeitete: ein richtiges Naturkundemuseum für Leipzig. Und Brehm lernte Ernst Keil kennen, den Mann, der seit 1853 in Leipzig die legendäre Wochenzeitschrift „Die Gartenlaube“ verlegte. Keine andere Publikumszeitschrift veröffentlichte im Lauf der Zeit so viele Artikel aus der Feder von Alfred Brehm wie die „Gartenlaube“. Und in Leipzig muss er auch Robert Kretschmer, den Grafiker, kennengelernt haben, der später seine „Thierleben“ kongenial illustrierte. Der arbeitete damals für eins der anderen berühmten Leipziger Medienprojekte: die „Illustrirte Zeitung“ von Johann Jacob Weber.

Und noch eine Bekanntschaft fällt in diese Zeit – die mit dem Verleger Herrmann Julius Meyer, der damals mit seinem Verlag noch im thüringischen Hildburghausen ansässig war, nach Leipzig sollte er erst 1872 umziehen. Aber zwischen Meyer und Brehm wurde das Großprojekt damals ausgesponnen, auch wenn beide wohl noch nicht ahnen konnten, wie es einschlagen würde. Damals tauchte auch erstmals das Wort „Thierleben“ auf, ab 1863 erschienen dann die ersten Bände offiziell unter dem Label im Bibliografischen Institut, mit Zeichnungen von Robert Kretschmer.

Nicht zu vergessen, auch das fällt in die Leipziger Zeit: 1861 heiratete Brehm seine Cousine Mathilde Reiz.

Natürlich ballen sich die wichtigsten Informationen zu dieser kurzen Zeitspanne in diesem Buch im Kapitel „Leipzig – Wiege für das ‚Thierleben‘“. Und dem Leser fallen allerlei Dinge ein, was man aus diesen kurzen vier Jahren als Ausstellungsthema im Naturkundemuseum gemacht haben könnte, wenn denn in Leipzigs hohen Häusern die Naturwissenschaften überhaupt eine Lobby hätten.

Haben sie aber nicht – ganz anders als Theologie und Musik. Schade drum. So wird immer mehr vergessen, dass Leipzig im 19. Jahrhundert auch mal ein Brennpunkt der internationalen naturwissenschaftlichen Forschung war. Aber mit Brehm tun sich eine Menge Leute schwer, auch weil etliche Verlage zwar immer wieder gern das „Thierleben“ kompilieren, aber bei Lebensdaten zu Brehm fast alle nur abschreiben von lexikalischen Einträgen und biografischen Skizzen, die irgendwann vor 150 oder 120 Jahren erschienen. Die eigentliche Brehm-Forschung lag Jahrzehnte lang auf Eis. Zumindest wurde kaum etwas davon weiter rezipiert, was ein emsiges Häuflein von Forschern, die sich rund um die Brehm-Erinnerungsstätte in Renthendorf vernetzten, über die Jahre herausfanden. Denn ein Großteil des Brehm-Nachlasses war im Elternhaus des Autors gelandet, der zuletzt seinen Lebensmittelpunkt in Berlin hatte.

Die Schwierigkeit mit den in Renthendorf verbliebenen Schriften war immer, dass sie oft erst in jahrelanger Kleinarbeit entziffert werden mussten. Anfangs war es vor allem die LPG vor Ort, die die Arbeit in der Gedenkstätte unterstützte, später sprang der Freistaat Thüringen ein, als das Weiterbestehen der Gedenkstätte und der Bestand des Hauses gefährdet waren. Und eigentlich hätte ein Buch wie dieses schon viel früher, in den 1990er Jahren erscheinen sollen, erzählt Haemmerlein. Doch neben den unsicheren Jahren für die Gedenkstätte traf auch der frühe Tod wichtiger Brehm-Forscher das Projekt. Und noch mehr Zeit wollte Haemmerlein nun wirklich nicht ins Land gehen lassen, vor allem weil viele Schriften und lexikalische Angaben über Brehm gespickt waren mit Fehlern. Fehler, die eigentlich durch die intensive Quellenarbeit schon längst korrigiert sind. Aber darauf geht Haemmerlein sehr ausführlich ein. Immerhin geht es auch um nicht ganz unwichtige Fragen wie die, wann und wo eigentlich das „Thierleben“ tatsächlich das Licht der Welt erblickte.

Nun wissen wir es. Und haben es schwarz auf weiß.

Aber natürlich ging es Haemmerlein auch um mehr. Immerhin bietet der Renthendorfer Bestand auch die Grundlage dafür, Brehm selbst wieder zu Wort kommen zu lassen und direkt aus seinen Briefen, Tagebucheinträgen, Artikeln und Reisenotizen zu zitieren. Aber auch Expeditionsgefährten, Verwandte, Forscherkollegen und Zeitungskritiker kommen in den Quellenteilen der einzelnen Kapitel zu Wort. Ein recht abwechslungsreiches Erzählprinzip, das Haemmerlein da gewählt hat: In recht knapper Form erzählt er in 14 Kapiteln die wichtigsten Lebensetappen Brehms. Und zu jedem dieser Kapitel gibt es dann einen nachfolgenden Textteil, in dem die Originaldokumente meist in Ausschnitten zitiert sind. Und das alles reich bebildert.

Und auch die Rezeption von „Brehms Thierleben“ lässt Haemmerlein nicht aus. Immerhin gilt es ja auch zu verstehen, warum ausgerechnet das „Thierleben“ so eine Wucht entfaltete und bis in die Gegenwart immer wieder neue (wenn auch oft verstümmelte) Auflagen erlebt. Natürlich traf es auch einen Nerv der Zeit. Das lesende Publikum war hochgradig interessiert an den Entdeckungen der Naturwissenschaften. Seine letzten Jahre verbrachte Brehm auf ausgedehnten und oft sehr anstrengenden Vortragsreisen. Heftige Angriffe erlebte er augenscheinlich tatsächlich nur aus der erzkatholischen Ecke. Aber er hatte nie Probleme, Säle mit hunderten Zuhörern zu füllen.

Kritisiert wurde freilich immer wieder auch seine starke Psychologisierung des Tierlebens, eben das, was beim Lesepublikum wohl am besten ankam. Seine Schilderungen wurden ja gerade deshalb so anschaulich und einprägsam, weil er den beobachteten Tieren oft fast menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zuschrieb. Dabei schoss er auch übers Ziel hinaus, weil er damit bestimmten Tierarten auch wieder Charaktereigenschaften zuschrieb. Und so lernt man am Ende des Buches auch einen Brehm mit zwei verschiedenen Gesichtern kennen.

Das eine ist der Mann, der gerade Raubvögel vom Adler über den Sperber bis zu Uhu und Kolkrabe öffentlichkeitswirksam schon 1858 in der „Gartenlaube“ als schädlich beschrieb und tatsächlich ihre „Verfolgung und … Vernichtung“ forderte, ein Thema, das Haemmerlein noch einmal ausführlich anhand der Donaureise Brehms zusammen mit Kronprinz Rudolf von Österreich 1878 behandelt, als die kleine Jagdgesellschaft mitten in der Brutzeit 211 Vögel schoss – darunter 14 Seeadler, „15 Adler anderer Arten, neun Geier, 24 kleinere Taggreifvögel in sieben Arten, 27 Störche und Reiher …“

Übrigens ein Vorgang, der damals keineswegs zum Skandal wurde. Erst um 1890 (da war Brehm schon sechs Jahre tot) kamen die ersten Stimmen auf, die erschrocken feststellten, dass die wilde Schießerei dazu geführt hat, dass die großen Raubvögel in Europa schon selten geworden sind. Aber das waren Töne, die erst einmal nur in vogelkundlichen Schriften erschienen, in Jägerzeitschriften noch lange nicht.

Aber es gibt auch den anderen Brehm, den die Land- und Forstwirte 1873 in Wien kennenlernten, als Brehm einen engagierten Vogelschutz-Vortrag hielt, in dem er den Erhalt von Waldfluren, Schutzstreifen und alten Vogelnistbäumen forderte und insbesondere ein Plädoyer für den Schutz der Krähen hielt. Mit Mahnungen, die heute so gültig sind wie damals – vor Monokulturen, die quasi Schädlinge geradezu anziehen, dafür die Vielfalt von Tieren dezimieren, die in einer reichhaltigen Landschaft die Schädlinge im Zaum halten. Ein echtes Plädoyer für Biodiversität.

Verständlich, dass Haemmerlein betont, dass man diesen Brehm nicht einfach nur über einen Leisten ziehen kann, sondern durchaus auch die kritischen Seiten beleuchten muss, eben den ganzen Brehm sehen, wie er ist. Da hat man schon mehr, als viele Umweltminister heutzutage bieten können. Und man bekommt ein vages Gefühl dafür, wie dieser Brehm auch ein gewisses Grundverständnis für die Vielfalt des Lebens an Leser vermittelte, die hochwissenschaftliche Bücher auch damals nie gelesen hätten. Dafür hat augenscheinlich Brehm selbst alles gelesen, was er zur Tierforschung finden konnte – auch Darwin, den er zwar zitiert, aber nicht unbedingt in seine eigene Haltung als Forscher übernommen hat. Und wo er keine fachkundigen Quellen für seine Tierbeschreibungen fand, fragte er die Leute, die mit den Tieren in freier Wildbahn in Berührung gekommen sein mussten – etwa beim Thema Gemsen, wo er die Jäger fragte. Was dann auch jedes Mal Kapitel ergab, die auch unter den jeweiligen Experten Zustimmung fanden, weil die Beobachtungen stimmig waren.

Insgesamt also ein Buch, das nicht nur viele stereotype Fehler korrigiert, die sich seit 1890 in die Brehm-Literatur eingeschlichen haben, sondern auch mit vielen Bildern und Dokumenten das Leben dieses Mannes sichtbar macht, der mit seinen Büchern, Artikeln, Vorträgen und Unternehmungen (wie dem Aquarium in Berlin) zwar immer in der Öffentlichkeit präsent war, als Persönlichkeit und Familienmensch aber fast unsichtbar war. Und auch das gehört zu den Qualitäten des Buches: Es macht die Menschen im direkten Umfeld Brehms sichtbar – von seinen Geschwistern und seinen Eltern bis hin zu seiner Frau und seinen Kindern. Und es lädt die Brehm-Freunde natürlich ein, das kleine Renthendorf und die Brehm-Gedenkstätte mal zu besuchen.

Hans-Dietrich Haemmerlein Alfred Brehm. Biografie in Zeit- und Selbstzeugnissen, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2015, 18,50 Euro.

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