Was haben Flüchtlingsdebatte, NSU, Pegida, Politikverdrossenheit, Bildungsversagen und zunehmendes Misstrauen in die politischen Eliten miteinander zu tun? Eine Menge. Wer eines der komprimierten Mafia-Bücher von Jürgen Roth erwartet, wenn er sein neues Buch mit dem Titel "Der tiefe Staat" in die Hand nimmt, wird staunen. Es gibt viel heftigere Gründe, richtig besorgt zu sein.
Roth holt weit aus. Er geht zurück bis in die Nachkriegszeit, als die neuen Staatsstrukturen der Bundesrepublik entstanden. Und er erinnert sehr faktenreich daran, warum die frühe Bundesrepublik im Grunde ein von alten NS-Kadern durchwachsener Bau war. Die alten NS-Beamten, Offiziere, Richter, Anwälte, Geheimdienstmitarbeiter und Politiker wurden ja nicht nur integriert in die neue Gesellschaft. In einigen Bereichen führten sie ihre alten Karrieren unter neuem Mäntelchen fort, stellten sich gegenseitig Persilscheine aus und blieben fast alle juristisch ungeschoren, auch wenn sie in der NS-Zeit für Mord, Verschleppung, Enteignung und Willkür zuständig waren.
Und sie prägten mit ihrem Korpsgeist auch die neuen Institutionen. Zu einigen wurde das ja in jüngster Zeit erst mit wissenschaftlichen Studien aufgearbeitet. Man denke an das BKA und ansatzweise das Innenministerium. Mit eigentlich frappierenden Ergebnissen. Nur gingen die Nachrichten über die hochgradige NS-Belastung in der Frühzeit vieler Ämter und Behörden meist schnell wieder unter im täglichen Nachrichtenrauschen. Ist doch schon lange her.
60 Jahre, 50, wenn man die großen Skandale der 1960er Jahre betrachtet. Und da stutzt man und kratzt sich am Kopf. Denn die 1960er Jahre assoziiert man ja eigentlich mit den 68ern. Überall stehen sie heutzutage am medialen Pranger, als hätten sie die brave Bundesrepublik in ein unzumutbares Chaos gestürzt und dem Extremismus erst Tür und Tor geöffnet.
Ein Feindbild, das Geschichte hat.
Denn eine Ursache für die Proteste und Demonstrationen um 1968 waren die sich häufenden Skandale um alte Nazi-Größen, die in Amt und Würden waren, obwohl ihre kriminelle Vorgeschichte bekannt war. Die Proteste gingen damals von den Universitäten aus. Auch das wird heute gern verschwiegen. Und der wichtigste Schlachtruf war anfangs der an der Uni Hamburg zuerst gesehene „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Der Aufstand der 68er war ein Aufstand der jungen Leute, die die Nase voll hatten von einer Republik, in der die alten Nazi-Größen noch immer in Amt und Würden waren. Und in der sie auch ihr altes Nazi-Denken auslebten. In vielen dieser Einrichtungen war diese Denkhaltung mindestens bis in die 1980er Jahr nachweisbar.
Jürgen Roth spricht von einem Fingerabdruck, an dem dieses alte Nazi-Denken immer erkennbar war. Und bis heute sichtbar ist. Denn die alten NS-Offiziere, Polizeiführungskräfte, Ministerialmitarbeiter, Richter und Geheimdienstoffiziere sind zwar mittlerweile alle entweder alte Tattergreise oder tot. Aber sie haben die von ihnen aufgebauten Behörden mit ihren Vorurteilen durchtränkt und die nachfolgenden Generationen geprägt. Und es gibt bis heute Bundesinstitutionen, die den von Roth beschriebenen Fingerabdruck immer wieder erkennen lassen.
Wer die Bausteine dieses alten Nazi-Denkens sucht, findet sie heute noch bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Dazu gehört der ausgeprägte Chauvinismus allen anderen Völkern und Ländern gegenüber, der gepflegte Elitarismus (der Glaube, man sei als Elite auserwählt, zu herrschen und andere zu erniedrigen), der durchwachsene Autoritarismus (der Glaube, hierarchische Führerstrukturen wären die Lösung aller Probleme), ein ausgewachsener Antisemitismus (der sich heute als Ausländerfeindlichkeit und Islamverachtung neu ausgeprägt hat), ein ausgeprägter Anti-Intellektualismus (praktizierte Bildungsfeindlichkeit) und eine durchwachsene Verachtung für die Demokratie und alle liberalen politischen Bewegungen. Roth kann dazu mit Recht auf die diversen „Mitte“-Studien verweisen , die in den letzten Jahren erschienen sind. Aber diese Studien beschäftigen sich mit der Gesamtbevölkerung, richten den Fokus nicht speziell auf die politischen Eliten oder den Staatsapparat.
Aber auf dem Gebiet kennt sich Jürgen Roth wieder bestens aus.
Er spricht seit Jahrzehnten mit den Staatsdienern, lässt sich von ihnen immer aufs Neue erklären, wie politische Skandale entstanden sind, wie Korruption funktioniert oder wie politische Mandatsträger ihre Macht nutzen, die Demokratie zu untergraben und auszuhöhlen. Nur dass er es in seinen vielen vorhergehenden Büchern noch nicht unter dem Aspekt beleuchtet hat, dass die Zerstörung der Demokratie sogar System haben könnte. Dass es innerhalb der staatlichen Behörden und der politischen Eliten Kräfte geben könnte, die bis heute bemüht sind, die demokratischen Grundrechte auszuhöhlen und die Freiheiten des Grundgesetzes wieder abzuschaffen.
Im Nachwort wird Jürgen Roth selbst angst und bange bei seiner Analyse. Aber die Analyse stimmt. Gerade wird es exemplarisch an den Flüchtlingen durchexerziert, die auf der Flucht vor den Kriegen im Nahen Osten in Deutschland Zuflucht suchen. Und wer jetzt glaubt, über Kontingente, Obergrenzen, Beschneidung der Grundversorgung und Residenzpflicht wird erst seit 2015 diskutiert, der irrt. Dieselbe Diskussion schwelte schon 2010, als Deutschland von den Katastrophen im Süden noch gar nicht berührt war. Dieselben Argumente loderten 1992, als der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen die Bundespolitik dazu animierte, das deutsche Asylrecht erstmals massiv auszuhöhlen.
Auch damals waren es Neonazis, die die Ereignisse organisierten und vorantrieben. Und die dabei sogar auf den Beifall der Anwohner rechnen konnten, die dem Angriff auf die Asylbewerberunterkunft Beifall klatschten. Aber das eigentlich Erschreckende war damals schon, dass die Regierung nicht gegen den zündelnden Mob vorging, sondern die Polizeikräfte sogar abzog. Was irgendwie passte zum vorher praktizierten medialen Hochschaukeln der Asyldebatte. Aus Roths Sicht haben hier ein paar Politiker ganz gezielt agiert, bis die Ereignisse sich überschlugen. Und der Angriff galt von Anfang an dem Asylrecht, das den konservativen Hardlinern in den Staatsapparaten immer schon ein Dorn im Auge war. Politisch war damals eigentlich etwas völlig anderes dran: ein echtes Einwanderungsgesetz. Das wir bis heute nicht haben.
Und diese erzkonservativen Verfechter eines geschlossenen, autoritären Staatsgebildes, kannten auch damals schon keine Scheu, mit den Rechtsextremen wenn nicht zu paktieren, dann doch erstaunlich gleicher Meinung zu sein. Vieles, was damals wesentliche Vertreter der Bundespolitik äußerten, hätte ohne Abstriche auch in den Wahlprogrammen rechtsextremer Parteien stehen können. Es war wie heute. Wieder kennen konservative Innenminister und Ministerpräsidenten keine Scheu, sich direkt im chauvinistischen Wortinventar der Rechtsextremen zu bedienen und auch noch Verständnis zu äußern für die selbsternannten „besorgten Bürger“.
Und das schwarze Sachsen kennt Jürgen Roth auch schon lange bestens. In etlichen seiner Bücher hat er über den „Sachsensumpf“ geschrieben, der exemplarisch zeigte, was aus einem Staatsapparat wird, wenn sich die involvierten Täter bestens kennen und gegenseitig decken und augenscheinlich auch beste Beziehungen in die Behörden und die politischen Schaltstellen haben, sodass nicht nur ernsthafte Ermittlungen unterbunden werden und ganze Aktenberge verschwinden, sondern auch die Zeugen für ihre Taten sich auf einmal als Angeklagte vor Gericht wiederfinden.
Kartell des Schweigens
Die diversen Fallkomplexe zum „Sachsensumpf“ waren keine Blaupause für das, was parallel dazu bei der Deformierung des sächsischen Staates passierte, sondern nur ein paar Facetten des Grundproblems. Das wurde 2011/2012 nämlich recht deutlich, als sich herausstellte, dass das Untertauchen der rechtsextremen Terrorzelle NSU in Sachsen wohl kein Zufall war, sondern gedeckt wurde von einem Kartell des Schweigens. Nicht nur beim Bundesverfassungsschutz begann auf einmal das große Aktenschreddern, als die Existenz der Terrorgruppe bekannt wurde, auch beim sächsischen Verfassungsschutz wurden auf einmal hunderte Akten vernichtet. Im Untersuchungsausschuss des Landtages wurde dann zumindest sichtbar, welches Ausmaß diese Vertuschung hatte. Und an ein paar Punkten wurde sichtbar, dass die Geheimdienste mehrfach Gelegenheit hatten, dass Trio und das drumherum existierende Unterstützernetzwerk militanter Neonazis auffliegen zu lassen.
Doch nicht nur hier wurde deutlich sichtbar, dass sächsische Behörden auf dem rechten Auge nicht nur blind waren, sondern wohl mit Absicht wegschauten. Möglicherweise, so deutet Roth an, weil die Verantwortlichen mit dem demokratiefeindlichen Geist der Rechtsextremen mehr Übereinstimmung hatten als mit ihrer eigentlichen Aufgabe im demokratischen Staatswesen. Ein Ergebnis dieser Rechtslastigkeit waren ja immer wieder regelrechte Ermittlungsexzesse gegen all das, was man so als links definierte. Besonders exzessiv nach den Demonstrationen gegen den Nazi-Aufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden.
Aber was wird aus einem Land, in dem staatliche Instanzen jedes demokratische Engagement versuchen zu diskreditieren?
Mehr dazu an dieser Stelle in Teil 2 auf L-IZ.de.
Jürgen Roth Der tiefe Staat, Heyne Verlag, München 2016, 19,99 Euro.
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