Die Leipziger konnten 2004 und 2005 regelrecht zuschauen, wie die neue Situation in der deutschen Linken entstand. Die WASG wurde 2004 so wirksam, dass 2005 eine erfolgreiche Teilnahme an der Bundestagswahl möglich schien. Doch diese Gunst der Stunde nutzte Oskar Lafontaine, um gleich noch eine neue Partei aus der Taufe zu heben, die die SPD und seinen einstigen Parteifreund Gerhard Schröder so richtig ärgern konnte.
Dass es bei den beiden Alphatieren wohl genau darum ging, sich gegenseitig zu zeigen, wer härter austeilen konnte, ist wohl nicht nur eine These, die von Lucke da vorbringt. Die neue Partei entstand aus der Verschmelzung mit der bis dahin nur in Ostdeutschland überlebensfähigen PDS. Das Ergebnis heißt Linkspartei. Und der Schachzug erwies sich als klug: Seitdem sitzt die Linkspartei verlässlich im Bundestag. Sie hat auch im Westen ihre Wähler gefunden, die hier den letzten Hort eines auf Solidarität angelegten Programms sahen.
Dass auch die Linke nicht immer solidarisch ist und lieber Fundamentalopposition betreibt, statt alle Möglichkeiten auszuloten, linke Politik in Deutschland wieder regierungsfähig zu machen, analysiert von Lucke sehr ausführlich.
Aber so lange die Linke nun einmal jene Stimmen bekommt, die eine vom Neoliberalismus berauschte SPD nicht mehr einfangen kann, so lange steht eindeutig die Frage: Schafft es die deutsche Linke (zu der von Lucke auch die Grünen zählt), sich so weit zu einigen, dass sie fähig ist, gemeinsame Bundesregierungen zu stellen? Oder überlässt sie das Land für lange Zeit der CDU und dient sich nur immer wieder als Wasserholer an? Was ja sichtlich auch dazu führt, dass gerade die SPD so überhaupt keine Kontur mehr gewinnt und auch nicht mehr als Alternative zur CDU begriffen wird.
Ganz zu schweigen davon, dass sie (oder ihr gequälter Vorsitzender) bislang nicht ein einziges deutlich linkes, also solidarisches Projekt vorgeschlagen hat, mit dem die Entwicklung in Deutschland wieder vorangebracht werden kann und die riesigen Versäumnisse in Europa endlich angepackt werden.
Von Lucke geht zwar nicht dezidiert darauf ein, wie die konservativen Regierungen Europas in den Krisen der letzten Jahre alle reihenweise versagt haben, weil sie für eigene Lösungen überhaupt keine Ansätze oder Visionen haben. Auf die Finanzkrise haben sie alle nur mit riesigen Rettungsschirmen und Rettungspaketen reagiert, die ins Straucheln geratenen Banken mit Milliardensummen “gerettet”. Diese Rettungspakete sind als Schulden in sämtlichen Staatshaushalten gelandet und haben erst dafür gesorgt, dass aus der Finanzmarktkrise eine Staatsschuldenkrise wurde. Reagiert hat Deutschland darauf überhaupt nicht. Typisch Angela Merkel, wurde man erst aktiv, als Länder wie Griechenland tatsächlich kurz vor der Implosion standen. Aber man hat nicht solidarisch reagiert – auch wenn das gern so verlautbart wurde. Man hat mit einer gnadenlosen Austeritätspolitik reagiert, die Griechenland erst recht zum Spielball der Banken und der Aufseher gemacht hat. Von Lucke nennt die Folgen den “Export von Hartz IV”.
Und ebenso hat Angela Merkel auch in der Flüchtlingskrise gewartet, bis die Flüchtlinge in Scharen endlich auch Deutschland erreichten. Obwohl die Geschichten von Ertrinkenden im Mittelmeer seit 2011 alle Zeitungen füllen. Pech für die Flüchtlinge: In Europa herrschten die Konservativen. Und die kennen für alle Probleme immer nur eine Lösung: Grenzen, Regulierung, Kontingente, Kontrollen.
Wenn man so drüber nachdenkt, staunt man schon, wie sehr die Parteien, die bei Unternehmen, Markt und Finanzen immerfort nur noch mehr Deregulierung fordern, immer dann, wenn es um menschliche Not geht, Regulierungen fordern.
Zumindest das haben sie alle bewiesen in den letzten Jahren: Konservative Parteien wissen nicht, was Solidarität ist. Im Jahr 2015 schon erst recht. Auch daran erinnert von Lucke, dass da auch im konservativen Denken der Republik etwas passiert ist. Nämlich im legendären Jahr 1982, als die FDP durch ihren Kurswechsel die Regierung Schmidt aus dem Amt fegte und die lange Ära Kohl erst ermöglichte. Das Ding nannte Helmut Kohl damals ja bekanntlich “moralische Wende”. Und er bezog sich sehr dezidiert auf das, was die “Eiserne Lady” Margaret Thatcher damals in England anrichtete, als sie ihr Land einer neoliberalen Radikalkur unterzog. Mit all den Folgen, die auch Labour in Englang zu einer fast konservativen Marktpartei gemacht haben.
Und neoliberales Denken gehört seit 1982 nicht nur zum Grundbestand der vormals eher linksliberalen FDP, sondern ist in fast alle Parteien hineingesuppt und hat praktisch alle Ansätze, die Politik im Land einmal anders, als permanent nur in “Liberalisierung” und Deregulierung zu denken, ausgelöscht. Auch in der SPD, die bis heute darunter leidet, dass sie wirklich linke, solidarische Positionen nicht mehr glaubwürdig mit Ideen und Personen besetzen kann.
Dass einer wie Gerhard Schrödere seine Partei regelrecht desavouiert haben, als er stante pede in gut bezahlte Spitzenpositionen in der Wirtschaft wechselte, macht das Problem nur noch deutlicher. Und es macht der Linkspartei (deren Name Die Linke von Lucke übrigens als Anmaßung empfindet) natürlich leichter, sich als linke Alternative einer profillos gewordenen SPD anzubieten. Was aber seine Tücken hat, denn mit Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht hat sie auch zwei Führungsgestalten bekommen, die – anders als die Reformer in der einstigen PDS – nur auf Radikalopposition setzen. Mit fatalen Folgen. Denn sie ergänzen die fehlenden Angebote und Visionen der SPD durch Standpunkte, die sie für eine Bundesregierung untauglich machen.
Von Lucke exerziert das am Beispiel der NATO-Mitgliedschaft durch und der Frage, wie eine Gemeinschaft wie die EU eigentlich ihre Aufgabe zur Sicherung des Friedens in der Welt wahrnehmen will, wenn sie selbst über keine einsetzbaren Truppen verfügt. Selbst wenn man die NATO ablehnt, muss man ja zumindest einen Gegenvorschlag machen, der nicht in einem einfachen “Nein” bestehen kann, denn davon lassen sich Typen wie Wladimir Putin ja nicht beeindrucken. Und ein Sicherheitsgefühl geben nicht vorhandene Truppen gerade den Ländern im Osten Europas auch nicht.
Womit man beim Thema Solidarität wäre – auf europäischer Ebene. Und die kann man eben nicht teilen oder gar nur (wie es die Konservativen gemacht haben) auf eine Währungsunion beschränken. Schon 1998 haben das die prominentesten Kritiker des Euro angemahnt, dass eine gemeinsame Währung zwangsläufig auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik braucht. Denn – und das ist ja die simple Erkenntnis aus der Euro-Krise: Wer eine gemeinsame Währung schafft, befindet sich auch in einer Schuldengemeinschaft mit allen, die an dieser Währung partizipieren. Jedes falsche Herumdoktern an den Leiden eines Landes, dessen Wirtschaft unter der Schuldenlast zusammenbricht, schlägt auf alle anderen Mitglieder der Währungsgemeinschaft zurück, sorgt für einen Zusammenbruch von Absatzmärkten, steigende Arbeitslosenzahlen an der ganzen Peripherie Europas und die Bindung aller erwirtschafteten Mittel vor allem im Schuldendienst. Wichtige Infrastrukturinvestitionen bleiben aus, die Arbeitslosenzahlen steigen rapide, ganze Regionen werden abgehängt und die Binnenwanderung in Europa setzt ein.
Oder – und das ist das fatalere Ergebnis – ganze Gesellschaften beginnen zu kippen und statt eine Erneuerung der Demokratie wählen die immer ratloseren Wähler zunehmend Populisten und Autokraten. Von Lucke deutet es zumindest an, aber es ist auch unübersehbar: Der Vormarsch der Front National, der AfD oder der nationalistischen und autokratischen Parteien in Ungarn oder Polen ist das Ergebnis einer tiefgreifenden Demokratiekrise in Europa. Und damit auch die Folge einer elementaren Krise der europäischen Linken.
Und daran hat die deutsche Linke ein gerüttelt Maß an Mitschuld. Sie bringt nicht einmal mehr die Solidarität mit anderen linken Parteien des Kontinents zustande, von der Entwicklung gemeinsamer solidarischer Projekte und Visionen für Europa ganz zu schweigen. Die SPD sitzt nur noch als stiller Zuhörer in der Sozialistischen Internationale, gestaltet nichts mehr, bringt keine deutlich als solidarisch erkennbaren Vorschläge zur Krisenlösung mehr auf den Tisch.
Da liest man dieses Buch und versteht auf einmal die ganzen Frustrierten auf der Straße und in den Blogs besser. 2004 sind sie montags für eine neue Alternative auf die Straße gegangen, die dem neoliberalen Denken im Land endlich wieder ein solidarisches Gegenmodell entgegenstellen sollte. Bekommen haben sie eine Linkspartei, die sich im Bund jeglichem Kompromiss und einer echten linken Kooperation verweigert. Das, so von Lucke, ist einer der wesentlichen Faktoren dafür, dass die CDU quasi zum Dauerregieren eingeladen ist und Angela Merkel die Bundestagswahl von 2017 wohl jetzt schon locker gewonnen hat.
Von Lucke erinnert auch daran, dass diese zerstrittene Linke von heute fatal an die zerstrittene Linke in der Weimarer Republik erinnert, die mit ihrem Kampf gegeneinander erst ermöglicht hat, dass eine ganze Reihe völlig unfähiger bürgerlicher Regierungen das Land erst so richtig in die Krise regieren konnten und am Ende ein Adolf Hitler die Republik in einem Staatsstreich einkassieren konnte.
Das, so von Lucke, scheint auf einmal wieder möglich. Und nur deshalb, weil die Linke lieber Fundamentalopposition betreibt, statt (wie 1998) ein wählbares Regierungsangebot zu schmieden, das auch wieder eindeutig solidarische Grundzüge trägt.
Derzeit sieht es (außer in den am ärgsten gebeutelten Ländern im Süden) danach aus, dass die Linken überall die weiße Fahne gehisst haben und alles tun, um irgendwie in einem neoliberalen System zu überleben, in dem nur noch das Geld zählt, die Karriere und das eigene Pfründchen. Und in dem stockkonservative Regierungen nur allzu bereit sind, genau das zu opfern, was ein Leben in den westlichen Gesellschaften überhaupt erst attraktiv macht. Und das sind die alten, von der Französischen Revolution aufs Tablett gebrachten Menschenrechte, das sind Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit – vor dem Gesetz, in der Bildung, bei den Lebenschancen.
Wer Wörter sucht, die belegen, wie sehr das neoliberale, elitäre Denken sich in die Welt gefressen hat, findet sie an allen Ecken und Enden und auch in fast jedem Parteiprogramm: Elite(universität), Exzellenz(initiative), Wettbewerbsfähigkeit, Marktkonformität, Effizienz, Synergieeffekt, Liberalisieren, Deregulieren …
Was übrig bleibt, wenn linke Parteien sich derart dem Markt und der bürgerlichen Mitte andienen (und dabei die Vertretung für alle im Wettbewerb Unterlegenen, für sozial Schwächere, schlecht Entlohnte, für Erniedrigte und Entrechtete einfach abgeben), nennt von Lucke dann genau so, wie es ist: eine “amputierte Demokratie”.
Entstanden ist eigentlich ein Buch, dass sie alle lesen sollten: alle Vorsitzenden von SPD, Linken und Grünen.
Denn selbst wenn es den Grünen gelingt, sich 2017 der CDU als neuer Mehrheitsbeschaffer anzudienen, ändert das nichts am Dilemma: Sie allein sind nicht die Alternative, die eine Demokratie braucht. Eine Demokratie lebt vom Ausgleich. Aber der entsteht nur, wenn auch immer wieder das solidarische Moment einer Gesellschaft zur Macht kommt – und dann oft mühsam repariert, was das egoistische Moment beim Regieren angerichtet hat.
Und gerade weil die deutsche und in Teilen auch die europäische Linke derart eklatant versagt haben und sich als Alternative verweigert, kommt genau das jetzt hoch, was die Demokratie letztlich zerstören will: der uralte Nationalismus, verbunden mit dem blinden Glauben, autokratisches Regieren wäre die bessere Alternative zur Demokratie.
Albrecht von Lucke Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, Droemer Verlag, München 2015, 18 Euro.
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Ausführliche Bemerkungen zu einem Buch, die ich sehr gut finde und wo ich mir wünsche, dass diese vom Team der L-IZ nicht schon morgen wieder Schnee von gestern sind.
“Und daran hat die deutsche Linke ein gerüttelt Maß an Mitschuld. Sie bringt nicht einmal mehr die Solidarität mit anderen linken Parteien des Kontinents zustande, von der Entwicklung gemeinsamer solidarischer Projekte und Visionen für Europa ganz zu schweigen.”
Man kann alles drehen und wenden wie man will, es geht letztlich immer ums Geld. Das ist das Thema, welches von den Linken schwer vernachlässigt wurde. In Sachsen erleben wir das in beschämender Weise vor unseren Haustüren. Die Menschen nehmen es doch längst nicht mehr ernst, wenn da nur gefordert wird und keine Lösungswege zur Finanzierung aufgezeigt werden. Von den üblichen längst ausgeleierten Vorschlägen abgesehen.
Es gibt sie nämlich, die Lösungsmöglichkeiten zu wesentlichen Reformen im Finanz-, kommunalen Prüfungswesen und bei den Wirtschaftsprüfungen, ohne die Grundpfeiler dieser Gesellschaft in Frage zu stellen. Würden sich Personen bei den Linken finden, die in der Lage sind das zu begreifen und sachlich anzugehen, dann würde ein ganz anderer Wind in Deutschland wehen. Ich habe bisher viele Register gezogen, um diesbezüglich etwas zu bewegen. Ich habe beispielsweise persönliche Gespräche (u.a. im Ostseeurlaub) mit den Herren Gysi, Bartsch und Ramelow geführt. Besonders hat mir die Personenschützerin von Herrn Gysi gefallen.
Auch die hübsche Frau Wagenknecht und weitere führende Vertreter der Linken in Deutschland sowie in Sachsen haben die bisherigen Folgen meiner Serien erhalten und werden auch die weiteren erhalten. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich dort etwas bewegt.
Die Bürger und Bürgerinnen erwarten – besonders beim Geld bzw. der Finanzierung – endlich Antworten. Die Worte der Bundeskanzlerin “Wir schaffen das schon”! haben sich diesbezüglich längst als falsch bewiesen.
Die Partei / Wählergruppe, welche sich der Thematik “Geld” realistisch und fachlich hochqualifizier annimmt, wird durchschlagende Aufmerksamkeit finden. Am Horizont erkenne ich dazu gegenwärtig nur die Freien Wählen in wenigen Bundesländern, die nach meiner Kenntnis für diese Thematik erhebliches Interesse aufbringen. Das könnte zu einen Flächenbrand führen. Könnte, wenn…! Ich stehe in den Startlöchern, um den Funken zu zünden!
In Sachsen gibt es dazu nicht einmal einen Hoffnungsschimmer. Die Linken haben sich im Freistaat als Katastrophe erwiesen! Sollte die AfD sich in Sachsen dieser Thematik annehmen, dann könnte das nicht nur für die Linke verheerende Folgen haben. Es könnte auch dazu führen, dass dann alle Parteien gezwungen sind, derartige Forderungen der AfD mindestens zu diskutieren, um in der Bevölkerung nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Eine sofortige Ablehnung derartiger Forderungen würde nach meiner Ansicht einen gewaltigen Zorn des Volkes auslösen. Das Ergebnis kann sich jeder ausmalen.
Nein, ich bin kein Hellseher!