Es steht zwar "EAGLE Starthilfe" drauf. Aber als Einstieg in die Welt der Einsteinschen Relativitätstheorie sollte man dieses Buch lieber nicht nutzen. Es sei denn, man studiert so herrliche Fächer wie Astrophysik oder Theoretische Physik. Vielleicht gar bei Professoren wie Helmut Günther oder Volker Müller - oder ihren Nachfolgern im Lehrstuhl. Denn hier braucht es Köpfchen.
Und es braucht ein hoch mathematisches Verständnis für Physik. Das ist nicht jedem gegeben, deswegen werden Leute wie Isaac Newton, Albert Einstein, Alexander Friedmann oder Karl Schwarzschild ja von den Einen so bewundert – und von den Leuten mit eher rudimentären Vorstellungen von der Welt gern herabgewürdigt. Da sind auch Journalistenkollegen nicht davor gefeit, die in diesem Jahr gern auch mal alles, was Einstein bewegt hat, als eher Zufall und eh schon von anderen Erfundenes beschrieben.
Aber auch denen sei das Buch natürlich ans Herz gelegt. Denn wenn man die moderne Physik nicht mathematisch versteht, versteht man sie gar nicht. Das war eigentlich schon bei Newton und Keppler so, die natürlich auch mit vorkommen, denn sie haben ja zu Beginn der Aufklärung Erklärungsmodelle für das Funktionieren unserer Welt entwickelt, die ihre Zeitgenossen verblüfften, auch weil sie erstmals belastbare Formeln für die Bewegung von Himmelskörpern boten. Auf einmal war der Kosmos kein primitives Uhrwerk mehr, das ein geheimnisvoller Dämon immerfort neu aufziehen und justieren musste – auf einmal bewegten sich Planeten, Sonnen und Galaxien auf logischen Bahnen, wurde verständlicher, warum kleine und große Körper sich nach gleichen Prinzipien bewegten. Auch wenn am Ende wieder ein Haufen Fragen offen waren, über die die Mathematiker die nächsten Jahrhunderte grübelten.
Im 19. Jahrhundert erst recht, wo sich selbst gestandene Rauschebärte einen Sport daraus machten, sich die kniffligsten Formeln vorzuknöpfen. Und auch wenn dieser furiose Einstein heute wie ein Zauberer und Spaßmacher wirkt, gehört auch er zu diesen Leuten, zu dieser durchaus erlesenen Schar, die sich um 1900 noch immer über die Probleme der newtonschen Gravitationstheorie einen Kopf machten.
Und das Schöne an diesem Buch ist: Die beiden Autoren holen die Leser genau an dieser Stelle ab, erklären, über welche Probleme Einstein da vor 110 Jahren nachdachte, und vor allem: Wie er es tat. Denn wenn man die Gesetze des Kosmos begreifen will, dann stößt man auf Phänomene, die sich mit der alten newtonschen Mechanik nicht mehr erklären lassen. Dann verändern sich Räume, wird Zeit zu etwas, was je nach Bezugspunkt differiert. Auf einmal verändern Massen Räume, wird Gravitation zu einem kosmischen Strukturmodell.
Für Leute wie Einstein war längst klar, dass ein richtiges Verständnis der kosmischen Mathematik die Grundlage dafür sein würde, den Kosmos überhaupt zu verstehen. Natürlich gehört eine gewisse Kühnheit dazu, alte Selbstverständlichkeiten einfach aufzulösen. Das hätte schiefgehen können. Aber nicht bei Einstein. Dazu kannte er die Probleme der theoretischen Physik zu genau. Und auch wenn wir in diesem Jahr die Veröffentlichung der “Allgemeinen Relativitätstheorie” im Jahr 1915 feiern, lag für Einstein da schon längst eine Phase intensiver Beschäftigung mit dem Thema hinter ihm. 1905 hatte er schon seine heute so benannte Spezielle Relativitätstheorie veröffentlicht, die noch so viele Fragen anriss, dass Einstein die nächsten zehn Jahre immer weiter an dem Thema arbeitete.
Am Ende war dann klar: Alles dreht sich um das Phänomen der Gravitation. Es gibt keinen Unterschied zwischen schwerer und träger Masse, wie ihn noch Newton rechnete. Beide sind eins. Und am Ende geht es eigentlich nur um zwei Dinge: Masse und Geschwindigkeit. Das steckt hinter der Formel E = mc². Die Energie bestimmt die Geometrie unserer Raum-Zeit, die Masse bestimmt die Krümmung des Raumes.
Bei der Entwicklung seiner Gravitationsgleichungen konnte Einstein – zum Glück – auf die hochkarätigen Arbeiten von Mathematikern wie Hilbert und Schwarzschild zurückgreifen. Und er formulierte ja auch schon erste mögliche Folgerungen und Prüfansätze. Es gibt keine Theorie, die in den letzten 100 Jahren derart gründlich überprüft und mit Experimenten begleitet wurde. Und noch viel Verblüffender ist, dass sich bis jetzt alle Vorhersagen aus der Relativitätstheorie bewahrheitet haben. Die Astronomen aus aller Welt konnten all die scheinbar seltsamen Strukturen, die sich mathematisch aus den Einsteinschen Formeln ergaben, nachweisen – ob das nun Schwarze Löcher betrifft, Neutronensterne, Weiße Zwerge oder die Lichtablenkung durch große Sterne. Der Kosmos funktioniert genau so, wie ihn die Relativitätstheorie beschreibt. Und die eigentliche Revolution in den Köpfen ist aus heutiger Sicht kaum noch fassbar, denn bis 1905/1915 bestimmte auch in der Physik ein statisches Modell die Vorstellung vom Kosmos. Planeten kreisten um Sonnen, Sonnen hatten ihren Platz in der Galaxie. Aber was sollte da groß passieren?
Die Einsteinschen Formeln aber machten aus dem statischen Kosmos auf einmal einen Kosmos, der sich permanent entwickelt. Alles ist Bewegung. Und diese Bewegung läuft so gesetzmäßig, dass auf einmal auch sichtbar wurde, dass die großen kosmischen Strukturen nur das augenblickliche Bild eines gigantischen Entwicklungsprozesses sind. Mal ganz zu schweigen davon, dass das Meiste, was wir von der Erde aus beobachten können, schon vor Jahrmillionen und Jahrmilliarden geschehen ist. Die Lichtgeschwindigkeit ist nun einmal die größtmögliche im Kosmos. Was auch Vorteile hat. Denn so lassen sich auch heute noch Sterngeburten und explodierende Supernovae beobachten, die vor vielen Millionen Jahren geschehen sind. Der Kosmos ist für uns quasi das Bilderbuch seiner eigenen Evolution.
Und es lässt sich beobachten, dass dieser Kosmos nicht wild durcheinander trudelt, sondern in einem gewaltigen Impuls nach allen Seiten auseinander strebt. Erst seit man das weiß, kann man auch von einem Ursprung des Kosmos sprechen, den englische Forscher einfach mal “Big Bang” genannt haben, weil aus diesem Urmoment vor über 13 Milliarden Jahren alle die gewaltigen Sternenmassen, Energien und Teilchen stammen, die wir heute erkennen können.
Wenn man heute die immer neuen Jubelrufe der Kosmosforscher hört, weil wieder ein Objekt nachgewiesen wurde, das die Einsteinschen Theorien bestätigt, dann vergisst man beinah, dass am Anfang alles reine Mathematik war. Nicht ganz einfache Mathematik, das gibt man gern zu, wenn Günther und Müller in diesem Buch in die Berechnungen der einzelnen Phänomene einsteigen und erklären, wo Einstein auf die Vorarbeiten von Mathematikerkollegen zurückgriff, wo er Newtonsche Formeln völlig umkrempelte und neue eigene an ihre Stelle setzte, und vor allem, wie man dann die Effekte berechnen kann, die sich aus den Formeln ergeben. Also genau das Rüstzeug, das Astrophysiker heute brauchen, wenn sie sich in das Metier stürzen wollen, das heute noch immer so aufregend ist wie 1915.
Der Teubner Verlag in Leipzig war 1915 mit dabei, als es um die wissenschaftliche Popularisierung der Allgemeinen Relativitätstheorie ging. Deswegen erscheint diese “Starthilfe” jetzt auch in der Edition am Gutenbergplatz Leipzig, die die Tradition des naturwissenschaftlichen Fachverlags in Leipzig fortsetzt, auch wenn die Edition Teubner längst in die Mühlen einer Verlagslandschaft geraten ist, in der es nur noch um schnelle Renditen zu gehen scheint.
Es ist so halb ein Geburtstagsbuch für die Allgemeine Relativitätstheorie und so halb eine Erinnerung daran, dass die großen Ideen immer ganz einfach aussehen, so, als ob sie auch ein ungebildeter Laie im Schlaf bekommen könnte – aber das ist eine literarische Illusion. Auch ein Newton, auch ein Einstein haben sich, bevor sie auf ihre scheinbar so einfachen Schlüsse kamen, erst einmal im Schweiße ihres Angesichts mit dem Stand ihrer Wissenschaft, dem mathematischen Handwerkszeug und den Arbeiten ihrer Fachkollegen beschäftigt, bevor sie sich mit schwerem Kopf unter den berühmten Apfelbaum legten und aus all den Vorbereitungen ein neuer Gedanke wurde, der sich beim näheren Betrachten dann als der scheinbar so simple Schlüssel erwies, der neue Räume eröffnete.
Und so vergessen wir heute oft, dass Genialität vor allem aus einem gewaltigen Wissensdurst und einer Menge Kopfarbeit besteht.
Wer jetzt also ein bisschen unterfordert ist durch die Zeitereignisse, der kann sich mit diesem Buch hübsch einarbeiten in die mathematische Welt der Relativitätstheorie. Und selbst wenn er nicht alle Formeln bewältigt, hat er hinterher eine sehr gute Vorstellung davon, was für ein herrliches Instrumentarium die Mathematik ist, wenn es um das Begreifen der Welt geht.
Helmut Günther; Volker Müller Allgemeine Relativitätstheorie, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, Leipzig 2015, 14,50 Euro.
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