Am plastischsten erzählt im Sammelband "... wenn Gott Geschichte macht" im Grunde Peter Voß in seinem Beitrag "Gott widersteht den Hoffärtigen!" davon, wie Geschichte wirkt - und das mit einer Personage von Leuten, die 40 (wahlweise 70) Jahre lang fest davon überzeugt waren, den Lauf der Geschichte bestimmen zu können, weil sie sowieso die Gesetzmäßigkeiten und die Zukunft auf ihrer Seite hatten.

Auch das gehört zur Hybris moderner Gesellschaften. Und die allmächtige SED – für die Voß in seinem Text unter anderem den Altgenossen Bernhard Quandt, den Funktionär Günter Schabowski und den MfS-Oberstleutnant Harald Jäger agieren lässt – scheiterte am Ende ja auch nicht nur daran, dass die “führenden Genossen” auf die sich verändernden Realitäten nicht mehr reagieren konnten, sondern auch an dem, was Jäger in der Nacht des 9. November am Grenzübergang Bornholmer Straße erlebte: Auf einmal erwiesen sich all seine Anweisungen und Handlungszwänge als nicht mehr umsetzbar, es galt nur noch, sich im entscheidenden Moment menschlich und moralisch richtig zu verhalten. Ein fast biblischer Moment, wie ihn Voß da schildert. Aber ein nachvollziehbarer: Dann, wenn es wirklich drauf ankommt, steht der Mensch ganz allein da – religiös interpretiert: allein vor Gott – moralisch interpretiert (teilweise auch mit Verweis auf Kant): allein vor seinem Gewissen. Und man nimmt es diesem Grenzoffizier des MfS ab, dass er in diesem Moment richtig einsam – und richtig wütend war. Es war sein Moment, in dem er begriff, dass der ganze scheinbar allmächtige Machtapparat, dem er diente, im entscheidenden Moment keine Antworten und Lösungen mehr bot.

Und da die Autoren sich zum Glück nicht nur auf die DDR kaprizieren, sondern auch die Entwicklung der Opposition in Polen, der CSSR und ansatzweise auch der UdSSR mit bedenken, bekommt man ein erstaunlich deutliches Bild von einem anderen, neuen Denken über Revolutionen. Gerade der Sieg der kommunistischen Revolutionen im Osten hat eigentlich das Vorbild der blutigen Säuberungen der Französischen Revolution desavouiert. Eine Revolution, die eigentlich ein neues Reich freier Menschen errichten wollte, war zur kafkaesken Karikatur geworden. Was ja dann bekanntlich 1963 bei der Kafka-Konferenz erstmals deutlich wurde.

Spätestens da war nicht nur den tschechischen Intellektuellen klar, dass eine neue blutige Revolution nicht der Weg sein könnte, eine menschlichere Gesellschaft herbeizuzwingen. Und seitdem tauchten in der Diskussion dann auch Worte auf, die zuvor ganz und gar in den religiösen Bereich verbannt zu sein schienen. Der zentralste von allen: Versöhnung. Andere wurden dann in der DDR tragfähig, wurden regelrecht aus den Kirchen hinausgetragen. Ganz zentral: die Gewaltfreiheit, wie sie schon Jesus predigte. “Mit Kerzen haben sie nicht gerechnet”, war ja jüngst eine Sammlung von Karl-Heinz Baum und Thomas Schiller (ebenfalls aus der Evangelischen Verlagsbuchhandlung) betitelt. Auch wenn die dort versammelten Autoren das eher als Manko und Fehlleistung des alten Machtapparates interpretierten. Aber im Staats- und Revolutionsverständnis der östlichen Ein-Parteien-Herrschaften gab es einfach keine Denkräume, die friedliche Veränderungen, offenen Dialog, kluge Kritik oder gar Verzicht auf Macht überhaupt vorstellbar machten.

Die Gralshüter der allein gültigen Ideologie lebten bis zuletzt in der Überzeugung, auf dem einzig richtigen Weg zu sein. Und auch in der Überzeugung, dass Geschichte nach Gesetzmäßigkeiten verläuft und sie diese Gesetze kennen und bestimmten.

Was für ein Bündel von Irrtümern.

Natürlich fragt man sich so beim Lesen: Ergibt sich daraus nun tatsächlich, Gott in der Geschichte am Wirken zu sehen, die Friedliche Revolution nun quasi als Antwort Gottes auf die Menschenfeindschaft der Französischen Revolution lesen zu können?

Nicht unbedingt – auch wenn das für gläubige Menschen bestimmt eine Sichtweise ist.

Aber es gibt da und dort durchaus ein paar fast unscheinbare Nebensätze, die nicht nur die Ideologie der gewalttätigen Revolution infrage stellen, sondern sämtliche Heilsversprechen der Moderne, die sich als alternativlos oder gar gesetzmäßig behaupten. Und da ist man dann wohl eigentlich an der Wurzel des Problems, das ein Problem der kompletten Moderne ist (auch die Nazis haben ja ein Heilsversprechen gegeben und die Welt in einen blutigen Teufelstanz geführt). Das wird deutlicher in dem sehr offenen und sehr freimütigen Essay von Gottfried Küenzlen, der sich mit Albert Camus beschäftigt und dessen ganz und gar nicht theologischer Kritik am (westlichen) Revolutionsdenken.

Denn augenscheinlich ist es so, dass die menschliche Geschichte zwar wirklich ein paar Gesetzmäßigkeiten hat. Aber sie wirken nicht so simpel, wie es sich die Revolutionstheoretiker 200 Jahre lang gedacht haben. Und vor allem lässt sich der Mensch nicht in so primitive und gleichmacherische Raster zwängen, wie sie sich die diversen Klassen- und Rassentheoretiker ausgedacht haben. Denn gerade diese strengen Raster zwängen Gesellschaften in ein Korsett, in  dem Menschen geradezu gezwungen werden, sich gegen ihre moralischen Maßstäbe zu verhalten. Was spätestens dann auch für den Einzelnen erlebbar wird, wenn er – wie der Grenzoffizier an der Bornholmer Straße – in eine Situation gerät, in der ihm nur noch eine Möglichkeit bleibt: sich für oder gegen sein Gewissen zu entscheiden.

Und das tragende Moment aller friedlichen Revolutionen im Osten war, dass die namhaften Bürgerrechtler praktisch alle die Interpretation teilten, dass eine Revolution keineswegs nach dem blutigen Schema der Französischen Revolution ablaufen muss, sondern ein Machtwechsel wohl erst dann wirklich Aussicht auf eine nachhaltige Veränderung bringt, wenn man die Versöhnung mitdenkt. Dann nimmt die Sache zwar meist trotzdem nicht den Weg, den man sich anfangs gedacht hatte. Auch das gehört dazu, wenn man auf Gewalt verzichtet: Man verzichtet auch auf Macht und lässt es durchaus zu, dass sich völlig neue Machtgleichgewichte einpendeln, bei denen die ursprünglichen Revolutionäre dann auf einmal nicht am Runden, sondern am Katzentisch sitzen.

Aber da tauchen dann genau die Fragen auf, die Camus gestellt hat: Nimmt man sich dann das Recht, Gott zu spielen und die Mehrheit zu zwingen, den “richtigen” Weg zu gehen? Oder nimmt man das Schicksal an und anerkennt, dass man auch als Revolutionär kein besserer Mensch ist und schon gar nicht Gott und nimmt den Camus’schen Weg, sein Leben zu leben? Der ist zwar mühsam. Aber das fiel ja auch den klugen Intellektuellen der DDR-Spätphase schon auf, dass das eigentliche Bild des Revolutionärs nicht der missverstandene Prometheus ist, sondern der geplagte Sisyphos, der auch bei Camus als Lebensbild auftaucht – übrigens ganz ähnlich wie bei Mattheuer mit ungeheurer Freude daran, den Stein immer wieder auf den Berg zu rollen.

Ulrich Schacht, Thomas A. Seidel (Hrsg.) … wenn Gott Geschichte macht!, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2015, 16,80 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar