Das Leipziger Jubilรคumsjahr geht am 20. Dezember zu Ende. Die Gesellschaft fรผr zeitgenรถssische Lyrik hat mit zwei Extra-"Poesiealben neu" dazu beigetragen und Leipzig und seine Partnerstรคdte als lyrische Orte entdecken lassen. Aber die eigentliche thematische Arbeit mit dem "Poesiealbum neu" geht weiter. Und so gibt's fรผr die stillen Stunden auch noch was Bewegtes. Denn noch immer gilt: Panta rhei.
Man kann es ganz heraklitisch lesen, als memento mori oder auch als ganz feine Mahnung an einen Teil unserer Gesellschaft, der sich derzeit an der รberzeugung berauscht, man kรถnne die Weltzustรคnde einfrieren, das รคngstlich behรผtete Jetzt durch Kontingente, Mauern, Zรคune und Kontrollen bewahren, quasi den Lauf der Welt aufhalten. Wollen wir wetten, dass all diese Leute weder in Physik noch in Geschichte gut aufgepasst haben?
Alles flieรt.
Manchmal mit einem Wahnsinnstempo, das unser Herz zum Rasen bringt, die Mรผhle im Kopf sowieso. โGedanken wie Affenโ, heiรt es im Gedicht โProvokationโ von Salean A. Maiwald. Tatsรคchlich ist auch die scheinbar so festgefรผgte westliche Welt in einer Hรถllenbewegung begriffen, immerfort am beschleunigen, unfรคhig, das Tempo zu drosseln. Deswegen gibt es ja so viele Aussteiger, Mรถchtegern-Yogis, Auszeit-Nehmer, Dauer-Lรคufer. โDiese Idiotenโ, schreibt Michael Augustin. Denn bei all der Raserei, dem Immer-Schneller ist lรคngst die Frage abhanden gekommen: Wohin geht denn die Jagd รผberhaupt?
Oder lautet das Ziel tatsรคchlich: mรถglichst schnell รผber den Styx?
Man kommt auf Gedanken, wenn man diese kleinen, gebรผndelten Welt-Zeit-Ich-Betrachtungen liest. Die stillen Erschรผtterungen, wenn die Autorinnen und Autoren sich mรผhsam wieder fokussieren auf das, was jetzt ist, und auf das, was mit ihnen selbst ist: Zeit vergeht weiter. Und selbst die stillsten Hรคuser in der Einรถde vergehen, sinken in den Fluss der Zeit zurรผck. Und dann sitzt man gebrechlich im Rollstuhl und wird sich bewusst, dass man die ganze Zeit gerast ist und das Rasen im Kopf auf einmal der Verblรผffung weicht: Rasend sitzt man fest. Im Rollstuhl. Das warโs.
Und was beim eiligen Laufen wie eine Abfolge immer neuer Novitรคten und Erstaunlichkeiten wirkte, erweist sich, wenn man diesen rasenden Film im Kopf dann doch einmal zum Halten bringt, als beschleunigte Wiederholung des immer Gleichen. Die Bilder des Lebens erweisen sich als einziges รberholtwerden von sich selbst. Man fรผhlt sich an eine der besten Zeilen von Steffen Mensching erinnert, der sich selbst in dieser so lethargisch geworden DDR einst wunderte, wie wenig das eigene Leben in der eigenen Macht steht, wie sehr andere dafรผr sorgen, dass man gefahren wird. Gelebt wird letztendlich.
Bewegung als Fiktion: 38 Jahre vor dem immer hektischer flimmernden Bildschirm. Festgebannt. Wie in Angelika Tonners โFrageZeichenโ. Und nach 38 Jahren dann die Kraft finden aufzustehen und โdie ganz eigene Lebensspurโ zu finden.
Und immer wieder der Blick aus dem Fenster. Dichter sind begnadete Fenstergucker. Und da sehen sie nicht nur die Alten, die mit ihren Rollatoren immer noch geschรคftig unterwegs sind. Oder โ ganz plastisch โ die Boote der (ertrunkenen) Flรผchtlinge durch die Straรen der eigenen Stadt fahren. Wie Geisterschiffe. Die Gegenwart irrlichtert herein in diese Gedichte. Bis hin zum Paradoxon der Minderheit, die sich auf der Straรe in Bewegung setzt, um anderen das Recht des Bleibens abzusprechen. Fast ein Aphorismus, wenn auch ein bitterer, ist dieser Kurztext von Hans-Hermann Mahnken.
Gerade weil die Autorinnen und Autoren aus verschiedensten Lebensaltern sprechen, erscheint die Vielfalt unseres Lebens als ein komplexer Vorgang von Bewegungen, die uns nicht nur lebendig machen, sondern auch zum Teil eines Kosmos, der nichts kennt als stรคndige Bewegung und Verรคnderung. Manchem geht es ja nicht schnell genug, der braucht die vorbeifliegenden Bilder, wenn er mit dem Motorrad schneller zu sein versucht als die Landstraรe. Bis ein einzelner Baum die Bewegung auflรถst.
Und dann diese Erfahrung, die dann auch die eben noch Jungen erwischt in dem Moment, wenn sie begreifen, dass die Kinder, denen sie gerade das Laufen beigebracht haben, schon am Fort-Laufen sind.
Die Bilder รผberlappen sich. Und in der Erinnerung ist noch die ganze Eiligkeit prรคsent: โimmer wieder / รผberhole ich mich / und / bleibe / zurรผckโ, schreibt Helle Trede. Ein bisschen heftig, wenn man das so bedenkt kurz vor Jahresschluss, wenn wieder alle Kanรคle gefรผllt sein werden mit falschen Rรผckblicken und verlogenen Rezepten fรผr ein besseres Leben im nรคchsten Jahr. Dabei wird es nie anders. Weil alles sich fortwรคhrend verรคndert. Was sich รคndern kann, ist unsere Sicht aufs eigene Leben und die eigene Zeit. Denn dass die โallenthalben vermรผllte Weltโ so ist, wie sie ist (ein kleiner Frageteil im Heft an den Lyriker Andreas Reimann spricht das an), liegt an unserer Eile, fortzukommen, irgendwohin, weg von unaushaltbaren Orten, die wir verwรผstet, vermรผllt und entleert zurรผcklassen. Als gรคbโs da hinten eine andere, noch bessere Welt. โAber man kann wohl sagen, dass schlechte Zeiten Zeiten fรผr gute Lyrik sindโ, sagt Andreas Reimann. โWie sonst wรคre es zu erklรคren, dass seit Jahrtausenden ununterbrochen wunderbare Verse geschaffen werden?โ
Womit man wieder beim Panta rhei der alten Griechen wรคre, die augenscheinlich besser sehen konnten, dass nichts so bleibt, wie es ist. Sie hatten ja auch kein Fernsehen und keine Werbung, die ihnen etwas anderes vorgegaukelt haben. Und was bewegungslos wirkt โ wie der rote Heiรluftballon bei Wolfgang Rischer โ ist in Wirklichkeit rasend in Bewegung. Nur: Das wahrzunehmen ist in der Regel โzu viel fรผr unser / winziges Hirnโ.
Das ja bekanntlich mit tausend anderen Sachen beschรคftigt ist. Wie man weiร. Bis man merkt, dass das Rasen nur im Kopf stattfindet. Und am Ende wird eine Stripperin zum Sinnbild unseres Welt-Wahrnehmens. โdie kรผrze der zeit / ist ihr kupplerโ, schreibt Dieter P. Meier-Lenz. Oder schrieb er, denn ihn ereilte die Zeit noch wรคhrend diese Gedichtsammlung entstand. Aber es trรถstet, wenn dabei Verszeilen bleiben, die mehr anklingen lassen als den mรผden Blick auf eine geschรคftstรผchtige Stripperin. Denn sie ist ja nur ein Bild aus einer Flut von Bildern, die uns als wichtig begegnen und erschlagen sollen, fortwรคhrende Bewegung, deren Zweck augenscheinlich nur die fortwรคhrende Aufmerksamkeit ist. โdie surrogate / fรผr glรผckโ, nennt es Meier-Lenz.
Gesellschaft fรผr zeitgenรถssische Lyrik (Hrsg.) โPoesiealbum neu. Alles flieรt. Gedichte zur Bewegungโ, edition kunst & dichtung, Leipzig 2015, 4,80 Euro
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