Manchmal braucht es auch wieder Traumbücher, Geschichten, die von Mut, Vertrauen und den großen Ängsten im Leben erzählen. Und manchmal ist die größte Angst nun einmal, beim Schwindeln erwischt zu werden. Diese Blamage! Diese Scham! Nicht auszudenken. Dumm nur, wenn man sich - wie Mia - heillos verfitzt hat in seinen Geschichten und am Ende nicht weiß, wie man aus dem Schlamassel wieder rauskommt.

Natürlich geht es auch ums Schwimmen oder Nicht-Schwimmen-Können. Und Mia kann nicht schwimmen, hat sich aber nie getraut, das ihren Eltern zu erzählen. Denn die sind modern, locker, nehmen jede Herausforderung an, selbst wenn es der Umzug in Tante Ellis altes Haus am Strand ist, das bei starkem Wind anfängt zu ächzen und zu knirschen. Für Mias Mutter nur eine Herausforderung. Von Beruf Brückenbauerin. Ihr ist keine Aufgabe zu groß. Denkt zumindest Mia, die schon auf den Lebensstationen vorher gelernt hat, dass ihre Eltern von ihr Selbstständigkeit erwarten und Ausreden gar nicht hören wollen.

Hören sie überhaupt zu?

Und was bekommt ein zehnjähriges Mädchen zu hören, wenn es zugibt, gar nicht schwimmen zu können? – Da fragt Mia lieber gar nicht erst, obwohl sie eigentlich nicht mehr ein und aus weiß mit all den Selbstvorwürfen, Zweifeln, Befürchtungen – von denen sich ja dann auch fast alle irgendwie zu bestätigen scheinen. Die Klassenkameraden wenden sich ab, der Freund, den sie gerade gefunden zu haben glaubt, bleibt weg. Das Leben einer Zehnjährigen kann so niederschmetternd sein und so trostlos.

Wären da nicht ein paar sonderbare Begegnungen, die die Geschichte ein wenig ins Reich der Phantasie verschieben – mit einem verlassenen Leuchtturm und der seltsamen Mannschaft des alten Kapitäns, die immer wieder unverhofft auftaucht und eigenartige Ansprüche stellt an die alte Hütte von Tante Elli, “Ellis Island”, die eigentlich das neue Zuhause für Mia und ihrer Eltern sein sollte, bedroht nicht nur vom Sturm, sondern auch vom Bürgermeister, der die Hütte gern wegen Baufälligkeit abreißen lassen möchte.

Und dabei hat sich Mia gerade so schön eingelebt in ihrem neuen Zuhause am Meer. Würde das jetzt eine Geschichte aus der Wirklichkeit sein, würden einfach die behördlichen Abrissbagger anrollen und klar Schiff machen. Mia würde ihre Sachen packen müssen und Abschied nehmen vom Meer, von Lars, vom Leuchtturm und dem kleinen Segelboot, das sie zum Geburtstag bekommen hat. Das ist so mit der Wirklichkeit: Dort finden ganz amtlich keine Traumgeschichten statt.

Dafür dürfen Autorinnen Traumgeschichten schreiben, in denen dann das passiert, was man sich als Mensch in der amtlich verwalteten Wirklichkeit in der Regel verkneift: das Träumen, das Trauen, das Wagen und das Mutigsein. Mutig, auch mal aus der Reihe zu springen und das Ungewöhnliche anzupacken. Mutig auch, das Ungewöhnliche zu akzeptieren – so wie die klapprige Mannschaft des alten Kapitäns und das Ächzen und Knarren der alten Hütte, wenn der Sturm geht, als wäre es ein großes Segelschiff, das im Wind liegt. Da darf es auch ein paar dunkle abendliche Ausflüge geben, ein paar Schreckmomente im Moor oder gar eine nächtliche Fahrt auf stürmischem Meer.

Denn hinter Traumgeschichten passieren ja immer die eigentlichen Geschichten, die, in denen es um unsere wirklichen Gefühle, Ängste, Sorgen, Zweifel und Hoffnungen geht. Wenn man’s recht bedenkt, natürlich auch immer ums Schwimmenkönnen. Da reicht ein “Du schaffst das schon” nicht immer. Da braucht es manchmal eine riesige Menge Mut, sich doch all das zu wagen, was einem immer Angst gemacht hat. Und es kann schiefgehen. Wie im richtigen Leben.

Und so merkt man unterwegs mit Mia auch irgendwann, dass es eigentlich genau darum geht – ein Leben lang. Und dass das ganze Ding mit dem Erwachsenwerden wahrscheinlich genau damit beginnt, dass man mit wachen Sinnen wahrnimmt, dass die Dinge, die man tut, alle mächtig in die Hose gehen können. Die meisten Leute glauben, dass es dann künftig das Beste ist, gar nichts mehr zu tun und sich an die ganzen Regeln zu halten, die andere Leute vor ihnen aufgestellt haben: nicht mehr träumen, nicht mehr aus der Reihe tanzen, so sein wie alle anderen auch. Das schwingt ein bisschen mit, auch wenn das kleine Dorf hinterm Deich eher ein freundliches ist mit lauter gemütvollen Küstenbewohnern, die gelernt haben, dass man einander beisteht. Und zwar immer und bedingungslos, sonst holt irgendwann das Meer das Dorf. Man möchte glattweg den Rucksack packen und hinziehen in der schäumenden Hoffnung, dass die Leute am Meer tatsächlich so sind.

Aber dafür ist es auch in gewisser Weise eine Traumgeschichte. Die natürlich auch nicht so endet, wie oben beschrieben, sondern so, wie man es sich die ganze Zeit wünscht, während man mit Mia mitfiebert, bangt und fürchtet, dass Alles rauskommt. Und dann? Das wagt sich Mia ja gar nicht auszumalen. Wie das meistens so ist. Und der Leser (wenn er sich erinnert), erinnert sich an genauso peinliche Zeiten in der eigenen Jugend, als Scham und Selbstvorwürfe aus kleinen Dramen große Tragödien gemacht haben und die Schuldgefühle am Ende fast die Welt aufgefressen hätten. Manchen plagt das ein Leben lang.

Natürlich ist es eine durch und durch weibliche Geschichte. In dieser Form erleben das wohl nur Mädchen. Jungen erleben es ein bisschen anders. Ein klein bisschen. Und meistens entscheiden sich die heranwachsenden Menschlein dafür, darüber nie wieder nachzudenken und so zu tun, als würde ihnen so etwas nie passieren. Oder sie verstecken es – so wie Mias Mama, die auf ihre Art der Welt etwas beweisen will, was sie in ihrer Kindheit einmal zutiefst verunsichert und beschämt hat. Das wirkt dann oft wie eine wirklich kesse und durch nichts zu erschütternde Frau, selbstbewusst, fordernd, immer bereit zu großen Taten.

Wie man sich täuschen kann.

In diesem Buch lernen sie beide was – Mama und Mia. Und die Anderen, die sich schon abgewendet hatten, vielleicht auch.

Das müssten sie selbst erzählen. Das sind andere Geschichten. Das hier ist Mias Traumgeschichte, liebevoll schwebend zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Das Wichtigste aber erkennt, wer sich noch erinnert, ganz von allein. Und zittert mit und fiebert mit und merkt die ganze Zeit, wie sich das anfühlt, wenn man als kleiner Mensch so in der Klemme ist und lange nicht weiß, wie man da rauskommt, ohne unerhörte Dramen zu erleben.

Und natürlich ist es ein doppeltes Bild. Denn wie anders lernt man sonst Schwimmen im Leben und den Mut zu entfalten, die Dinge anzupacken? Und vor allem auch zu lernen, wie das ist, wenn man sich wirklich zutraut, zu schaffen, was man sich vorgenommen hat. Eben so’n richtiges Mutmacherbuch.

Petra Kasch Mia und das Wolkenschiff, Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2015, 12,99 Euro.

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