รber Leipzig kann es gar nicht genug Gedichte geben. Das dachten sich nicht nur Frauke Hampel und Peter Hinke, als sie 2006 den beeindruckenden Band "Mit einem Reh kam Ilka ins Merkur" herausbrachten. Das dachte sich nicht nur die Lyrikgesellschaft, die gleich zwei dicke Poesiealben zum 1.000-jรคhrigen der Stadt herausbrachte. Das dachte sich auch Jutta Pillat.
Ein klein wenig anders ans Sammeln ist sie schon herangegangen. Wohl wissend, dass das Leben als Dichter in Leipzig kein leichtes ist. Deswegen steht das Georg-Maurer-Gedicht von der โden Musen bittren Stadtโ bei ihr auch recht zentral und gleich zu Beginn des Kapitels โNahe Orteโ. Ein Gedicht, das sie im Nachwort versucht, ein wenig zu relativieren. Das machen Dichterinnen und Dichter gern und โ wenn es wirklich welche sind (nicht alle, die Reime herstellen, sind auch Dichter) hat es regelrecht System. Was mit der speziellen Sicht zu tun hat, die sie auf die Welt, das Leben, sich selbst und den ganzen Rest haben: Da ist immer noch etwas mehr. Zumeist im eigenen Kopf, der โ vom Schauen, Betrachten, Nachdenken, Lesen und Loslassenkรถnnen trainiert โ den Profis unter den Kleine-Texte-Verfassern alles liefert, was รผber den Moment hinausweist: Assoziationen zu Bildern, Gefรผhlen, Gesichtern, Worten, Stimmungen, die in anderen Schubkรคsten der Erinnerung stecken. Der gewรถhnliche Zeitbรผrger kennt das fรผr gewรถhnlich nur aus wirren Trรคumen, aus denen er hochschreckt und sich fragt: War das jetzt wirklich?
Dichter wissen, dass es wirklich ist, weil es der Humus unseres Denkens ist. Und deshalb kann man nun all die Gedichtbรคnde, die zu Leipzig dieser Tage erscheinen, neben die รผblichen Leipziger Geschichts-Bรผcher legen โ und man hat mit zwei vรถllig verschiedenen Stรคdten zu tun, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben. Welches ist die richtige Stadt? Oder gibt es noch mehr?
Natรผrlich gibt es noch mehr. Jeder bastelt sich sein Leipzig-Bild zurecht. Zum x-ten-Mal erzรคhlen groรe Gazetten, wie einstmals in Leipzig gefeierte Szene-Stars fliehen (wie jรผngst Andrรฉ Herrmann), weil ihnen der Hype um die Stadt auf den Keks geht. Stimmt: Am schlimmsten ist das Marketing-Leipzig, eine kรผnstliche aufgepeppte Photoshop-Version eines hippen Kunststรคdtchens, das sich vor lauter Partyrummel nicht mehr erden kann. Das Erstaunliche ist eher, dass die meisten Leipziger von diesem Quatsch gar nichts mitbekommen und auch keinem Reisenden empfehlen wรผrden, nun ausgerechnet die viel beschworene โSzeneโ zu besuchen.
Grรผnde findet man auch in der Gedichtauswahl, die Jutta Pillat getroffen hat, genug. Sie hat nicht nur die jungen Autorinnen und Autoren um Texte gebeten oder die gerade Erfolgreichen wie Jan Kuhlbrodt und Kerstin Preiwuร, die durchaus dem skeptischen Ton eines Georg Maurer, der das wirklich bittere Leipzig der 1950er und 1960er Jahre bedachte, nahe sind. Dichter sind โ aus oben genannten Grรผnden โ Zweifler von Herzen. Wenn sie loben, loben sie mit Hintersinn (und dazu gibt es von Andreas Reimann nicht nur das in diesem Band abgedruckte Gedicht โNeues Rathausโ, sondern den ganzen, herrlich verflixten Band โBewohnbare Stadtโ, in dem die ganze Georg-Maurer-Skepsis nachglรผht: Kann ein Dichter hier รผberhaupt รผberleben?). Und wenn sie malen, dann malen sie eher wie die so oft verkannten Stadtmaler Pรถtzschig & Co. (weswegen Ralph Grรผneberger sich diesen Kรผnstlerkollegen im Geiste so nahe fรผhlt).
Die รคlteren Dichter in diesem Band kรถnnen ja auch auf Gedichte zurรผckgreifen aus Zeiten, als es ohne Understatement und Satyre (mit y wie bei Peter Gosse) einfach nicht ging, als sich selbst die besten Gedichtbรคnde jahrelang durch die Genehmigungspraxis quรคlten und dann bei Erscheinen trotzdem fรผr Furore sorgten (wie Thomas Bรถhmes โSanduhr am Gรผrtelโ, das auch die bis heute im Marketing komplett ignorierte Seite der Stadt thematisierte: die alternative, von Rock und Beat besessene Stadt). Manche Gedichte sind logischerweise Zitate aus dem groรen Bergwerk der Leipziger Dichter, die sich auf unterschiedlichste Weise reiben an dieser Stadt. So รคhnlich wie die Kollegen der Prosa, die in diesem Jahr tatsรคchlich irgendwie untergehen, weil auch kein Verlag die Kraft hat, mal eine Auswahl der besten Leipzig-Romane aufzulegen.
Mit Gedichten kann man das wenigstens machen, auch da und dort zeigen, dass es den รคlteren Generationen mit dieser Kramerstadt eigentlich auch nicht anders ging โ in diesem Band etwa mit Ringelnatz oder Helmut Bartuschek, den Jutta Pillat unbedingt wieder ins Bewusstsein der รffentlichkeit holen mรถchte. Manchen Namen wird man vermissen. Aber das ist kein Beinbruch, betont auch die Herausgeberin, denn die sind in der Regel ja in den beiden โPoesiealbum neuโ der Lyrikgesellschaft vertreten oder in der so sinnlich bebilderten Auswahl von Frauke Hampel und Peter Hinke.
Vollstรคndig kann so eine Auswahl gar nicht sein. Dazu waren zu viele da, haben hier versucht, mit Verlagen anzubandeln, zu studieren oder gar fรผrs Leben Fuร zu fassen und ein Auskommen zu finden. Das beginnt bei Paul Fleming, hรถrt bei Gellert nicht auf und kulminiert im 20. Jahrhundert in der sรคchsischen Dichterschule und der legendรคren Bootsfahrt auf dem Elsterstausee. Wer wirklich sucht, kann Bรคnde fรผllen mit Leipzig-Gedichten. Und man muss sortieren, keine Frage, Spreu vom Weizen trennen. Und wenn man das tut, merkt man, was fรผr ein bitterer Brocken Leipzig fรผr die Dichter immer war. Eine echte Stadt eben, bis zum Rand gefรผllt mit Sehnsรผchten, Hoffnungen, verlorenen Lieben, Einsamkeiten, Verprellungen und Narreteien.
In Jutta Pillats Auswahl vermischt sich das auch mit einem Thema, das ihr am Herzen liegt: der Suche nach Heimat. Ein geradezu schmerzlicher Findungsprozess, denn die schรถne Lipsia ist alles Mรถgliche, aber ganz bestimmt keine trรถstende Mutterfigur, so dass Leipzig in der Literatur auch ein permanenter Ort der Abstoรung ist. Das wird im Abspann des Buches ein wenig deutlich, wenn zu diversen Dichtern auch bemerkt wird, dass sie aus Leipzig fortgegangen sind. Nicht immer aus emotionalen Grรผnden, obwohl auch das recht oft vorkommt. Dieses plakatierte Wir-Gefรผhl (โWir sind Leipzigโ) ist eine groรe Illusion, wohl auch eine Anmaรung, die noch eher abschreckt als Vertrauen erweckt. Gerade bei denen, die auch schreibend erfahren, dass mit diesem โWirโ gar nicht alle gemeint sind โ zumindest dann, wenn es ernst wird, ums pure Leben geht. Eben das, worum sich diese dichtenden Eigenbrรถtler am eifrigsten kรผmmern โ was den Blick schรคrft fรผrs Wesentliche. Und spรคtestens bei Peter Gosse kann man lernen, dass man der bunten Verpackung niemals trauen darf, den Sprรผchen der Amtswalter sowieso nicht, so wie 1989 (nachlesbar bei Undine Materni). Volly Tanner ist ganz konsequent und spricht gleich mal von der โalten Hureโ, die sich mal 100 Jahre Pause gรถnnen sollte, um mal wieder runterzukommen und sich zu besinnen. Womit er den Dissens deutlich macht, der die sehr irdische Leipzig-Welt der Dichter von der hyperventilierenden Welt der Werbefachleute scheidet. Und zwar grรผndlich scheidet. Auch er nimmtโs lรคngst schon mit der Maurerschen Skepsis. Nur so wird das Ganze am Ende noch aushaltbar, wenn Leute, die in rosaroten Wolken schweben, ein Leipzig anpreisen, das es nur in kรผnstlichen Versionen aus Retorten gibt.
Womit auch der Titel einen Anklang bekommt: als kleines Plรคdoyer fรผr die irdischere Welt, die in Gazetten immer seltener vorkommt, dafรผr noch immer und noch genauso lebendig im Gedicht.
Jutta Pillat Stimmen fรผr Leipzig, Verlag Osiris Druck, Leipzig 2015, 14,90 Euro.
Veranstaltungstipp: Die Buchvorstellung fรผr โStimmen fรผr Leipzigโ findet innerhalb des 19. Leipziger Literarischen Herbstes am Mittwoch, 21. Oktober, um 19:30 Uhr im Zeitgeschichtlichen Forum statt. Es lesen Kerstin Preiwuร und Elmar Schenkel. Ins Gesprรคch kommen Jutta Pillat und Elia von Scirouvsky. Eintritt frei.
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