Auf die aktuelle Flüchtlingskrise, auf Pegida, AfD und Co. geht Joachim Reinelt zwar nicht ein. Aber es gibt Stellen in seinem Buch, die durchaus zu denken geben: Kann es sein, dass die nach außen gekehrte Aggression der Dresdner Straßenumzüge von 2014/2015 etwas mit der Ratlosigkeit von 1988/1989 zu tun hat? Ein Thema, das Reinelt ja gut kennt. Er war ja als Landesbischof 1989 mittendrin.

Nicht als Demonstrant, obwohl es dem rührigen Bischof von Dresden-Meißen einmal fast passiert wäre. Aber als Vermittler, Redner, Friedensprediger. Und als einer, der auch vor dem Gespräch nicht zurückschreckte – mit beiden Seiten, mit der Staatsmacht genauso wie mit aufgebrachten Demonstranten und Bürgern. Manche wollten einfach nur noch mit aller Gewalt raus und mit den Zügen mitkommen, die die Prager Botschaftsbesetzer durch Dresden in den Westen brachten.

“Bischof in aufregenden Zeiten” hat Reinelt seine autobiografischen Notizen untertitelt. Es sind eher Skizzen, Essays, die das Wichtigste aus einem Leben als Kaplan, Pfarrer und Bischof der ostdeutschen katholischen Kirche festhalten. Da tritt das Persönliche sowieso zurück, auch wenn die Frage durchaus auftaucht: Wird man als katholischer Amtsträger nicht einsam? Das muss den Mann von Anfang an beschäftigt haben, sonst würde es sich nicht wie ein roter Faden durch das Büchlein weben. Und die Antwort für Reinelt lautet in jeder Etappe: Nein. Jedes Amt ist eine neue Herausforderung, jede neue Gemeinde ein neuer Kreis von Menschen, die er quasi zu seiner Familie macht. Eher verblüffte ihn 1988 die Berufung zum Bischof. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Und wohl auch nicht damit, das Amt fast ein Vierteljahrhundert – bis 2012 – auszuüben und dabei mitten in großen politischen Veränderungen auf einmal eine wichtige Stimme zu sein.

Schon vorher hatte er immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Allmächtigen im Land selbst sich ihrer Sache gar nicht so sicher waren. Hinter der martialischen Fassade begegnete er immer wieder auch Funktionsträgern, die durchaus ratlos waren, was das eigene Leben betraf und dann den Geistlichen fragten: Wie ist das denn nun mit dem Sinn im Leben?

Eine verständliche Frage. Denn allein die Verkündung einer alleinseligmachenden “wissenschaftlichen” Theorie des Kommunismus gibt dem Leben keinen Sinn. Der Mangel dieser ganz konkreten Sinngebung wurde ja gerade in den 1980er Jahren immer offensichtlicher. Und die Ratlosigkeit der Funktionäre 1989 hat hier eigentlich ihre Wurzeln. Wofür hält man eigentlich seinen Kopf hin, wenn “die Sache” selbst keinen emotionalen Inhalt hat und die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens nicht beantwortet?

Übrigens eine Frage, die Reinelt ganz am Ende des Buches wieder aufnimmt, wenn er über die Sinn-Losigkeit der reinen Marktwirtschaft spricht. Auch der blanke Konsum, das ziellose Haben-Wollen erfüllt das Leben nun einmal nicht mit Sinn. Man kommt nicht wirklich um die Frage herum: Was gibt dem eigenen Leben ein Ziel? Und welche Dinge sind tatsächlich wichtig?

Da ist ein Glaubensmann wie Reinelt natürlich im Vorteil. In seiner Religion ist das alles durchdekliniert. Man muss es nur glauben. Aber – im Unterschied zu anderen Autoren – betont Reinelt gerade diesen Aspekt nicht. Dazu kennt er die Ratlosen im Osten zu gut. Er erzählt lieber von dieser Ratlosigkeit, die ihm immer wieder begegnete.

Ganz am Ende bindet er es in den Sätzen zusammen: “Der auf sich selbst verwiesene Mensch lässt sich seine Zirkel nicht gern stören. Er wird schnell aggressiv. So pflegt man die gesellschaftlichen Kleinkriege bis zur Lächerlichkeit. Ein Maximum an Individualismus torpediert alle Gemeinschaftsbezüge.”

“Alles Leben ist Begegnung”, zitiert er Martin Buber. Und es klingt wie ein deutlicher Kommentar zu dem, was sich derzeit in vielen politischen Kommentaren und auf den Straßen entäußert: Da sind augenscheinlich eine Menge Leute unterwegs, die panische Angst vor Begegnungen haben. Gar noch solchen der anderen Art.

Für einen wie Joachim Reinelt eigentlich unverständlich. Auch vor den roten Machthabern in Dresden hatte er keine Angst, musste aber drei Mal anfragen, bis auch der eher liberale Bezirksparteichef Hans Modrow zum Gespräch bereit war. Der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer war ja bekanntlich am 8. Oktober gesprächsbereit und durchbrach damit das Schweigen der Funktionäre. Aber viel tun konnte er nicht. Aber die Genossen wussten ziemlich genau, dass sie in dieser kritischen Phase die Kirche brauchten.

Und so steht gerade im ersten Teil des Buches, in dem Joachim Reinelt über die spannendsten Jahre 1988 bis 1990 erzählt, eine Information, die man in den meisten Büchern zum Herbst 1989 nicht findet: Die sächsischen Bezirkschefs der SED haben den von Honecker eingeschlagenen Konfrontationskurs augenscheinlich gemeinsam schon vor dem 9. Oktober verlassen. Der Leiter der Abteilung Inneres der SED-Bezirksleitung Dresden, Walter Fuchs, habe sich bei Reinelt gemeldet: “Er kam sichtlich erregt und brachte mir eine erstaunliche Mitteilung: Die Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt hätten sich geeinigt, dass in Leipzig nicht geschossen würde. ‘Die in Berlin wüssten auch Bescheid.'”

Fuchs wollte von Reinelt als Gegenleistung, dass in Dresden dafür die Demonstrationen an diesem Tag ausfielen. Versammeln sollten sich die Dresdener dafür in den Kirchen. Und er solle bekanntgeben, “dass die SED ihre Fehler eingesteht, größere Reisefreiheit und weitere bedeutsame Verbesserungen garantiert.”

Und hernach war Reinelt verblüfft, dass die Genossen das Versprechen auch einhielten: “Der Chef von der Abteilung Inneres hatte also doch korrekt informiert.”

In Leipzig fiel kein Schuss. Und das war – wenn man das richtig interpretiert – so auch von den drei Bezirkschefs und “denen in Berlin” vorab abgesprochen gewesen. Deswegen schreibt Joachim Reinelt lieber nicht – wie andere Autoren – von einem Wunder (denn es war ja augenscheinlich keines), sondern von Staunen, von etwas, “wie wir es nicht träumen konnten”. So interpretiert es einer, der nun wirklich dabei war, der die Ratlosigkeit der Genossen genauso erlebt hat wie die Ratlosigkeit der Dresdener, die bei der Durchfahrt der Züge aus Prag augenscheinlich das lähmende Gefühl hatten, jetzt nicht mehr raus zu kommen, endgültig gefangen zu sein in einem Land, das auch noch die letzte Grenze – die zur CSSR – dicht machte.

Seinen Lebensweg schildert Reinelt im Grunde nur in groben Skizzen, erzählt von der materiell schwierigen Arbeit in den Gemeinden und bei der Caritas (mit einigen verständlichen Seitenhieben auf die Gesundheitspolitik der SED), von der Suche nach neuen, zeitgemäßen Formen der Spiritualität (Stichwort: Fokolarbewegung), den Kontakten zu den Gemeinden in der CSSR und in Polen und dann logischerweise auch über die Zeit nach 1990, als die sächsischen Gemeinden starke Unterstützung beim (Wiederauf-)Bau von Kirchen und Schulen aus Partnergemeinden in Süddeutschland bekamen. Die Nähe zu sächsischen Politikern streift er nur kurz (aber dafür ist ein Foto im Buch, das ihn mit Stanislaw Tillich und Kurt Biedenkopf zeigt). Auch die Begegnung mit den drei Päpsten in seiner Amtszeit lässt er nicht weg. Und da hätte man beinah schon ein einziges “Freude, Freude!” erwartet. Aber die eigentliche Botschaft lag ihm wohl einfach am Herzen, die musste noch mit rein: Wie lernt der Mensch eigentlich zu lieben?

Eine Frage, die ihn sein Leben lang umtrieb. “Wenn Zwecke oder Mittel nicht letzten Zielen zugeordnet werden, verselbständigen sie sich zu Götzen und entwerten jede sinnvolle Kultur”, schreibt er. “Die Sinngebung kann aber nur von Menschen kommen, die selbst sinnbezogen sind. Wer das nicht hat, neigt zur Verabsolutierung der Dinge, der Ökonomie, politischer Propaganda, der Macht um jeden Preis oder simpel der Vergötzung des Konsums.”

Da hat er augenscheinlich einer Menge Leuten was ins Stammbuch geschrieben. Von den Spaziergängern in Dresden bis hin zu den Wirtschaftsexperten der hohen Schule, von den Dogmatikern der Linken bis hin zu den Anbetern des Freien Marktes.

Und nicht nur für Gläubige hat er das geschrieben. Am Ende spricht er auch noch vom Universum und erklärt auch den Nicht-Gläubigen, was damit gemeint ist: Das Große und Ganze, das Ein und Alles. Das er aus seiner Perspektive natürlich mit dem Einen identifiziert.

Joachim Reinelt Wo zwei oder drei … , St. Benno Verlag, Leipzig 2015, 12,95 Euro.

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