Für das "Vineta-Riff" bekam Jörg Jacob 2006 den Gellert-Preis, als er 2009 die Erzählung "fluten" vorlegte, fand darin die seinerzeit schon ferne Jahrhundertflut von 2002 ihr Echo. Aber wer den Leipziger Erzähler in den großen Literaturdiskussionen der Republik sucht, findet ihn nicht. Die leisen Töne sorgen selten für große Aufregung.
Die großen Narreteien schon eher. Aber die spiegeln sich ja in seinen Texten nur. Ziemlich direkt, so wie ein Spiegelbild auf dem Wasser. Mal ganz ruhig und gestochen scharf, mal leicht bewegt, mal regelrecht von Wellen zersplittert. Er betrachtet die Welt trotzdem nicht im Spiegel, auch wenn es so aussieht. Man könnte auch sagen: Er ist kein Journalist, der alles überzeichnet, dramatisiert, sofort zur politischen Botschaft zu machen versucht. Er ist Dichter. Auch wenn er nicht reimt und keine lyrischen Töne anstimmt.
Er ist Spaziergänger im besten Wortsinn, Beobachter, Zuschauer. Man merkt beim Lesen seiner Texte, wie er sich auf das Erzählte und Gesehene konzentriert und das ganze Bild zu erfassen versucht. Was schwer ist. Das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, eine ganze Landschaft, eine ganze Szene mit all ihren Farben, Akteuren und Tiefen zu erfassen. Man schafft stets nur einen Teil zu sehen, einen Ausschnitt. Heutzutage erst recht, wo jeder gewöhnt ist, das kleine Fotografiergerät aus der Tasche zu ziehen und den Moment schnell mal digital festzuhalten: KLICK!
Oder doch “Klick!”?
Wie bewegt man sich eigentlich durch die Räume der Erinnerung? Da kann man doch gar keinen Fotoapparat mitnehmen? Oder doch? Einer wie Jörg Jacob kann es. Denn wer gelernt hat zu schauen, zu-zu-schauen, der kann sich im Archiv der eigenen Erinnerungen bedienen, legt die erinnerten Szenen einfach ins Entwicklerbad und lässt sie Kontur gewinnen. Und wenn sich die Szene auf einmal klar abzeichnet, nimmt man das Blatt, hängt’s an die Leine zum Trocknen. Und irgendwann hat man ein ganzes Album von poetischen Texten, die das eigene Leben zeigen. Aber eben nicht aus der üblichen Knips-Perspektive, sondern so, wie es einem tatsächlich mal begegnet ist: ganz unverwechselbar, etwas gebrochen durch das eigene Betroffensein, aufgeladen mit Stimmung und Gefühl, denn als die ganzen Bilder abgespeichert wurden, waren sie ja wichtig. Sie haben uns beeindruckt, so tief, dass sie hängen geblieben sind. Nur: Kann man sie erzählen?
Die wilden, schenkelklatschenden Anekdoten und Peinlichkeiten, die im Familienkreis so gern zum Besten gegeben werden, sind es ja auch nicht. Tatsächlich erzählt man solche Momente ja nicht weiter. Es sind ja keine Abenteuer oder “Kindheitserinnerungen”. Trotzdem tauchen sie auch bei berühmten Autoren manchmal auf – bei Pasternak zum Beispiel, der aus diesem urpoetischen Material ebenfalls poetische Prosa gemacht hat. Nicht so knapp und verdichtet, wie es Jörg Jacob hier tut. Aber mit einer ganz ähnlichen Intensität im Schauen, Einfühlen, Erfassen. Man ahnt, dass hinter diesen Texten ein stilles, aufmerksames Kind gesteckt haben muss, eines dieser Kinder, die Erwachsene so erschrecken, weil sie stundenlang stillsitzen oder stehen können, völlig vertieft in eine Stimmung, einen Moment. Von Rilke kennt man das, von Erwin Strittmatter nur ansatzweise, weil der eigentlich nicht wirklich stillstehen konnte: Er musste noch immer seinen Senf obendrauf geben, die Bilder mit Bedeutung aufladen.
Das tut Jörg Jacob in diesem Band aus der Edition Wörtersee nicht. Er schaut, staunt ganz still und nimmt den Leser mit in eine Welt, halb Kindheit, halb Traum, und doch die Wirklichkeit. Alles ordentlich verstaut im Archiv der Erinnerung. Mindestens eine der kleinen Städte, von denen er im ersten Text spricht, ist Glauchau, seine Geburtstadt – im Hintergrund stehen Wald und Schlucht, plätschert der Bach, an dem die Kinder Wasserräder bauen, wird es hügelig, aber noch nicht wirklich bergig. Und die Schranke am Bahnübergang begrenzt auf der anderen Seite den Weg in die Welt. Aber die Stadt, die so mit immer mehr Einzelheiten ins Bild kommt, könnte auch die eine oder andere Stadt in diesem Sachsen sein, weltverloren, abgehängt, auch wenn sich auf den Hauptstraßen so eine Art städtisches Flair ausbreitet mit Pizzeria, Kiosk, Blumenladen.
Aber die Zeit scheint trotzdem stehengeblieben, auch wenn die Gleichaltrigen weggezogen sind, die Häuser, in denen man die erste Jugendliebe besuchte, verlassen sind, die Bäume davor verschwunden. Zeit vergeht. Und manchmal kann man darüber nur erschüttert staunen, weil doch eben noch alles da war. Auf einmal ist die Szenerie verlassen – und scheint seit Ewigkeiten derart leer geräumt zu sein. Grimma ist so eine andere kleine Stadt, die in seinem Lebenslauf auftaucht. Vielleicht sollte man auch Leipzig dazu zählen. So groß, dass es nicht auch hier noch ab und zu diese provinziellen Momente geben könnte, ist die Stadt ja auch nicht. Die kleine Miniatur “Nach oben” könnte durchaus eine verträumte Reminiszenz an das durchaus Unmögliche am Rande des Möglichen sein.
Irgendwann landen die Verträumten wohl alle in Leipzig, weil es sich in den kleinen Städten ausgeträumt hat. Häuser, Straßen, Wege sind zwar alle noch da. Und die stillen Spaziergänge mit den scharf gestellten Sinnen kann man auch noch alle wiederholen – bei Nebel, in der Dämmerung, bei Mondschein. Man begegnet den Tieren, den Bäumen, diesem Ur-Gefühl, dass die Welt tief und lebendig ist und immer auch rätselhaft.
Ansonsten aber ist das stille Land da draußen seines Sinnes beraubt.
Nur die Großeltern sind nicht mehr da, die Begleiter der Kindheit. Nur im Kopf flackern die Bilder wieder auf – die Flucht vor dem Blitz mitten im Winter, die ausgebuddelten Wildschweinknochen im Wald, die quäkende Stimme des Ansagers auf dem Bahnsteig in Glauchau, ein Zugmoment auch in Freital. Das Leben als stille, unaufgeregte Fahrt. Und immer wieder “Gassen, Gärten, träge, faul, hingespreizt”. Nie wieder erlebt man Jahreszeiten so intensiv und so groß. Nie wieder ist Zeit so etwas Pralles.
Natürlich weiß man als alter Knopp irgendwann, dass das an unserem großen Speicher im Kopf liegt und der Art, wie er Erinnerungen speichert und ablegt. Und Winter Nummer 5 und Nummer 6 füllen noch ein ganzes Speicherfach, Winter Nr. 12 bekommt nur noch ein Eckchen, Winter Nr. 40 taucht nur noch mit dem Kürzel “usw.” auf. Deswegen tauchen alte Menschen so unverschämt fröhlich in die Kindheit weg und der ganze erwachsene Mensch scheint verschwunden. Die Erinnerung bedient sich mit Wonne an den Originalen aus der Hauptdatei. Und das tut sie auch deshalb, weil wir bald – meist schon in der Schule – gelernt haben, dass wir gar keine Zeit haben. Dass alles eilig ist und der Moment das Kleingeld nicht wert. Und so werden wir schnell und schneller, und immer weniger sehen wir. Und immer seltener stehen wir da wie Jörg Jacob und schauen einfach und lassen den Moment in uns hineinsickern, saugen ihn ein und sind wieder für eine kurze Zeitspanne im Jetzt.
Und genau so hat er seine 99 Miniaturen geschrieben. Jede in sich ein komplettes Bild, ohne Pointe, ohne Moral. Weil es das wirklich nicht braucht, wenn man sich einfach wieder das Recht nimmt, stehen zu bleiben und für ein Weilchen zu sein. (Das ist jetzt wieder Strittmatter – aber in seinen besten Miniaturen war er genauso und hat auf den moralischen Schlenker verzichtet.)
Ein Buch also für alle, die dieser Tage mal wieder Kopfschmerzen haben vom Immer-gleich-wieder-weg-sein. Dabei tut das weh mit der Zeit, wenn man nie bei sich und nie wirklich hier ist. Oder da. Die Augen offen, so weit es geht, mit aller Neu-Gier in diese Welt schauend, die jedes Mal einzig ist, manchmal zum Greifen real, manchmal nur so ein bisschen angehaucht, so ein: War da was? Achnee, schnell wieder weiter … und am Ende stapelt sich im Bauch das Gefühl, das alles verpasst zu haben. Da kann dieser Spaziergänger der Stille durchaus helfen, sich wieder zum Innehalten zu zwingen. Und vor dem, was gerade ist, nicht gleich wieder hektisch davonzulaufen.
Jörg Jacob Klick! 99 Miniaturen, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2015, 14 Euro.
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