Der 4. Dezember naht. Zumindest für Eisenbahnfreunde und Bahnhofsliebhaber ist das natürlich ein dicker Eintrag im Terminkalender. Denn am 4. Dezember 1915 wurde Leipzigs Hauptbahnhof eingeweiht. Auf die Idee, das ganze 1.000-jährige Jubiläum der Stadt unter die Überschrift "Großer Bahnhof" zu setzen, ist natürlich niemand gekommen. Dafür gibt's ein neues Buch von Helge-Heinz Heinker zum 100-jährigen.
Diesmal nicht ganz so essayistisch wie in seinem Geburtstagsbuch zum 90-jährigen des Leipziger Hauptbahnhofs. Aber wer das Wichtigste zur Geschichte vom einstmals größten Kopfbahnhof weit und breit wissen will, findet in diesem Band alles, fein in Kapitel gegliedert, die Vorgeschichte natürlich auch mit drin. Denn bevor Leipzig diese bis heute beeindruckende “Kathedrale des Verkehrs” bekam, war ja auch die Eisenbahngeschichte der Messestadt durch viele verschiedene Privatbahnen und sechs einzelne Kopfbahnhöfe geprägt. Ganz ähnlich wie in anderen deutschen Großstädten.
Das mussten auch die deutschen Länder und die Bahnbetreiber erst lernen, dass das faszinierende Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts nicht nur völlig neue Transportleistungen ermöglichte und das Wachstum der Großstädte im Grunde erst ermöglichte – es raste auch mit für die Zeit unfassbarem Tempo auf zwingende neue Lösungen zu. Das überraschte damals durchaus, wie sehr gerade die Eisenbahn zur großen Vernetzung, zur zentralen Steuerung und zur klugen Implementierung in die Stadtverkehre zwang. Spätestens seit 1879 stand das in Leipzig auf der Tagesordnung. Bis es dann aber tatsächlich zur Vertragunterzeichnung zwischen Preußen und Sachsen kam, dauerte es bis 1902. Heinker merkt – ganz Kenner dieser Materie – an, dass ausgerechnet die 1815 von den Preußen erzwungene Randlage Leipzigs dazu führte, dass sich hier die Eisenbahnbereiche der beiden Länder Preußen und Sachsen direkt überlappten. Man war gezwungen, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Das Ergebnis war ein Bahnhofsprojekt, das seinerzeit seinesgleichen suchte – bis hin zum über 200 Meter langen Bahnhofsgebäude mit den beiden riesigen Eingangshallen und dem faszinierenden Querbahnsteig, alles fein säuberlich in einen preußischen und einen sächsischen Teil geschieden.
Der Band erzählt die Vor- und die Baugeschichte, zu welcher natürlich auch die Neuen Güterbahnhöfe und der heute fast vergessene Postbahnhof gehören, das erste U-Bahn-Projekt natürlich auch. Denn darunter, dass Leipzig keinen Durchgangsbahnhof hat, litt so manche sinnvolle Zugverbindung. Die Preußen waren schuld, merkt Heinker an. Die wollten keine Konkurrenz für ihren Hallenser Durchgangsbahnhof. Aber die Leipziger Kaufleute fanden die Kopfbahnhoflösung dann auch bald besser, denn welche Großstadt hat schon so einen Ankunftsbahnhof, von dem aus die Reisenden direkt in die City und (damals ein wichtiges Argument) in die Hotels und Messehäuser strömen konnten?
Was logischerweise auch den Bahnhofsvorplatz ins Bild rückt – für Helge-Heinz Heinker ein bis heute spannendes Verkehrsprojekt, weil hier gerade die Vernetzung mit der Straßenbahn spannend gelöst wurde. Andererseits: Ein echter Bahnhofsvorplatz ist es nicht. Die heiklen Querungen über die vierspurigen Straßen und die unübersichtliche Haltestelle merkt er so nebenbei auch an.
Nicht immer sind Verkehrsplaner wirklich auf der Höhe der Zeit.
Beim Leipziger Hauptbahnhof waren sie es. Und sie haben ein Bauwerk hingesetzt, das zwar mehrere Wiederaufbauphasen und einen gewaltigen Umbau zum Shopping-Center hinter sich hat – aber der Baukörper selbst musste nie so radikal umgebaut werden wie anderswo. So dass er noch heute die architektonische Ausstrahlung seiner Erbauungszeit von 1907 bis 1915 hat. Wie sehr sich der Inhalt in den 100 Jahren geändert hat, darauf geht Heinker in einzelnen Kapiteln genauso ein wie auf die Zerstörungen im 2. Weltkrieg und den langen Wiederaufbau, auf die dreimalige Elektrifizierung wie auf die jüngsten Entwicklungen, die dem Bahnhof auch zwei unterirdische S-Bahn-Steige verschafften.
Der Liebhaber der Bahnhofsgeschichte kommt auf seine Kosten, denn der Band ist reich gespickt mit Bildern.
Und auch die Freunde der Lokomotiven kommen auf ihre Kosten
Denn ein Großteil des Bildangebots widmet sich den verschiedenen Lokomotiven, die in den vergangenen Jahrzehnten im Leipziger Bahnhofsgelände gesichtet wurden – von Dampfloks aus den frühen Jahrzehnten, die noch in den 1970er Jahren im regulären Fuhrpark der Reichsbahn qualmten (und seither immer wieder mal mit Sonderzügen und zu diversen Jubiläen in den Bahnhof kommen) über die ersten E-Loks (von denen viele 1945 erst mal als Reparation in die Sowjetunion gingen) bis hin zu den modernen ICE. Natürlich ist letzteres auch ein freundliches Augenzwinkern für die Stammleser des Eisenbahn Kuriers. Aber das sind ja nicht wenige. Das merkt ja selbst die Deutsche Bahn immer wieder, wenn sie mal wieder von einer Krise geschüttelt wird: Tausende Freunde der rollenden Kolosse stehen trotzdem zu diesem Konzern, sind auf jede neue Strecke, jede neue Lokomotive, jede technische Neuerung gespannt. Denn auch 176 Jahre nach Eröffnung der ersten deutschen Fernbahn von Leipzig nach Dresden sind die Potenziale der Eisenbahn nicht erschöpft, auch wenn sie ganze Arbeitsfelder abgegeben hat – wie den Posttransport.
Aber es gibt kein anderes Verkehrsmittel, mit dem sich schnelle und umweltschonende Transporte in einem nationalen Netz so schnell und sinnvoll abwickeln lassen wie mit der Bahn. Es ist eher eine stark kfz-lastige Politik, die diese Chancen immer wieder beschnitten hat und am Ende auch für den Verlust wichtiger Verbindungen im Land verantwortlich ist.
Aber das hatten wir ja an dieser Stelle schon oft: Man redet eine Menge über “Vernetzung”, ist aber nicht wirklich fähig, die Wirtschaftlichkeit kluger Vernetzungen zu begreifen. Und auch nicht Abschied zu nehmen von dummen Vernetzungen, die einfach nur Geld fressen. Heinker merkt es kurz an, dass das gewaltige Wachstum der Eisenbahn in Mitteldeutschland dafür gesorgt hat, dass ein Elster-Saale-Kanal (um den vor 140 Jahren noch mit ganz anderer Lautstärke gerungen wurde) schlicht überflüssig wurde. Die Eisenbahn war in ihrer Leistungsfähigkeit schlicht konkurrenzlos – ist es auch heute eigentlich noch. Das wird zumeist immer erst dann sichtbar, wenn wieder ein Projekt wie das Mitteldeutsche S-Bahn-Netz in Betrieb geht, das schon im ersten Jahr so erfolgreich fährt, dass es die Erwartungen der Betreiber völlig übertrifft. Die Engpässe entstehen ja nicht, weil das System nicht leistungsfähig wäre, sondern weil schlicht zu wenig Zugmaterial unterwegs ist und die Gelder anderswo verbrannt werden.
Aber da sind wir wieder beim Netzwerkdenken, das eingefleischte Eisenbahnliebhaber im Blut haben, autofahrende Politiker in der Regel nicht.
Manche Bilder in diesem Band lassen einen schon ahnen, wie grau und trist es manchmal im Leipziger Hauptbahnhof war. Aber die meisten Bilder zeigen einen Verkehrskoloss, dessen pure Existenz eigentlich 100 Jahre lang immer zum Reagieren und Modernisieren gezwungen hat. Und das wird so weitergehen, auch wenn die Bahn erst mal stolz ist, ab Dezember neue ICE-Verbindungen in die gewaltigen Hallen führen zu können. Hat ja genug Geld gekostet. Und das wird dann fast gleichzeitig gefeiert mit dem offiziellen 100. Geburtstag dieses Superbahnhofs.
Helge-Heinz Heinker Leipzig Hauptbahnhof. 100 Jahre Brennpunkt der Verkehrsgeschichte, EK-Verlag, Freiburg 2015, 24,80 Euro.
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