Ist Schneewittchen eigentlich eine kesse Schaglien aus Sachsen? Und auch König Drosselbart nur ein sächsischer Prinz, mit dem die Lillys, Schagliens und Brigiddes erst mal nix anfangen können? Kann sein. Ist wohl so. Zumindest, wenn man nun dieses zweite Märchenbuch von Silvia Sachse gelesen hat, in dem es hintenweg ein wenig drunter und drüber geht.
Aber das passiert, weil Omas Bücherregal zusammengebrochen ist, das Märchenbuch dabei zerfetzt wurde und der ganze Bembel nun wild durcheinander geraten ist, was einem ja im Halbschlaf auch mal passieren kann. Denn wer hat denn nun bei den sieben Zwergen den Aushilfsjob bekommen? War das Dornröschen oder doch eher das Prinzesschen auf der Erbse? Und wie hieß der Prinz, der vorbei kam und den Sarg mitnahm? Es ist ja nicht so einfach mit den ganzen Königen und Königreichen, die zu den Zeiten der Grimms auch mal Handtuchgröße haben durften. Und wer im Erzgebirge wohnt, für den sind sieben Berge und Bäche ein Klacks, das spaziert er mit seinem Hundchen am frühen Morgen ab.
Es wird so Manches sichtbar, wenn Silvia Sachse die guten alten, fein abgehangenen Märchen noch einmal auf sächsisch erzählt. Und nicht nur auf sächsisch, sondern auf Osterländisch, noch genauer eigentlich: im Leipziger Gewandhaussächsisch. Denn Sächsisch – das sind Welten. Jeder Meißner und Dresdner braucht ein Wörterbuch, um das zu verstehen, was in Leipzig an Sächsisch gesprochen wird. In der Lausitz und im Vogtland sowieso. Das ist nicht mal vielen Sachsen bekannt, weil die meisten ihre eigene Mundart nicht mehr sprechen. Schon gar nicht lesen.
Und deshalb wissen sie auch nicht wirklich viel über sich, auch wenn sie mit stolzer Brust gern zugeben, dass sie “helle, heeflich un heemdiggsch” sind. Aber was heißt das? Ist das wenigstens so etwas wie ein Stück Räubercharakter?
Nicht wirklich. Es ist ihr Alltag. Und kaum jemand hat das in den letzten Jahren so deutlich gemacht wie Silvia Sachse. Denn ihre Märchenfiguren sind nichts anderes, als die quicklebendigen Nachbarn aus Schönefeld, Leutzsch oder Möckern gleich nebenan. Kleine, eitle Mädchen, die in der Heirat mit einem König die goldene Zukunft sehen, Könige, die eigentlich nur eine Kaschemme bewohnen, aber ihre Töchter nur an blaublütige Esel vergeben wollen, gierige alte Narren, die das junge Blondchen erst mal spinnen lassen, bis genug Geld in der Kasse ist, oder Großmütter, die auch mit Grippe im Bett nicht aufhören können, an der Jugend rumzumäkeln.
Und das alles sogar gereimt. Nicht irgendwie, sondern im auftrumpfenden, gar nicht so heeflichen Ton der Lene Voigt, die das Gewandhaussächsisch ja bekanntlich erst mal zu literarischer Genießbarkeit gebracht hat. Denn ohne die typisch voigtsche Selbstironie wird das gesprochene Sächsisch auch in Leipzig eher mährig als bissig, eher fläzig als humorvoll. Das muss man drauf haben. Bis auf die Oktave genau. Denn das Sächsische ist eine Mundart auf Augenhöhe. Und das unterscheidet es sehr von vielen anderen deutschen Idiomen. Hier wird nicht aus der Ecke oder gar von höherer Warte gesprochen. Vielleicht hat das mit dem sehr speziellen Verhältnis der Sachsen zu ihren Fürsten und Königen zu tun – ein Verhältnis, das die Regierenden in Dresden bis heute nicht begriffen haben.
Eigentlich brauchen die Sachsen keinen König. Jedenfalls keinen, der ihnen sagt, wo es lang geht, oder der sie gar in Schlachten schickt oder zum Katzbuckeln zwingt. Sie haben ihre Könige immer spüren lassen, dass aller Glanz gar nichts ist ohne ihren Fleiß und ihre Treue und ihre Geduld. Escha ist so ein Wort, in dem alles steckt, was sie bewegt. Es ist das Gegenteil vom Berlinischen ejaal. Ein Wort, das Langmut und unüberhörbaren Zweifel zugleich in sich trägt. Im Grunde das, was die Sachsen unter Heimtücke verstehen – und was im realen Leben mit der Heimtücke anderer Leute auch nichts zu tun hat. Man ist gern tückisch, eher diggsch. Und lässt das den Gegenüber lieber vorher spüren, wenn der eine Antenne dafür hat – sonst muss man halt den Wischmob nehmen oder die Bratpfanne. Ein Volk, das auf diese Weise heimtückisch ist, hat viel Erfahrung gesammelt mit Durchreisenden, die sich schlecht benommen haben. Auch das steckt in escha.
Und das ist noch immer die mordsfidele Lebenshaltung vieler Bewohner der Region. Und selbst wenn sie das alte Idiom nicht mehr drauf haben – die Haltung zum Leben und seinen Zufällen und Unbilden ist noch immer da. Zumindest in Leipzig. Man muss nur zuhören können in der Straßenbahn, im Laden oder auf diversen Montagsdemos, wo man nicht immer weiß, wo der Sachse nun wirklich rumsteht – drinnen oder draußen?
Meistens steht er draußen rum, weil er sich von Großmäulern nicht gern belatschern lässt. Wie die Welt ist, das weiß er selber. Und sagt’s auch gern, wenn einer zuhört. Eher gemütlicher die männlichen Exemplare, die ja auch eins gelernt haben: Den Spruch von den schönen Mädchen, die hier auf den Bäumen wachsen, den darf man als suchender Prinz nicht allzu ernst nehmen. In Sachsen suchen sich die schönen Mädchen – auch wenn sie Schaglien heißen – die Prinzen selber aus. Und allzu sehr zu Herzen darf man sich einen derben Korb nicht nehmen. Die Mädchen wollen wirklich erobert werden. Und manchmal gehört für den nachfragenden Prinzen dazu einfach die konsequente Fähigkeit, seinen Stolz zu vergessen und noch mal vorzureiten. Das beeindruckt. Vor allem auch, weil die jungen Damen dann so tun können, als hätten sie ihren Hansemann nur mal richtig prüfen wollen.
Davon war in Silvia Sachses erstem Märchenbuch schon eine Menge zu lesen – und die Herren Wilhelm und Jacob Grimm hätten sich durchaus animiert gefühlt, auch mal den Volksschlag der Sachsen zu untersuchen (den sie gar nicht kannten, denn ihre Märchenzuträger kamen vor allem aus Schwaben und Hessen). Der jetzt vorgelegte Band knüpft daran an, demonstriert in forscher Resolutheit, was aus Dornröschen, Rotkäppchen und Rumpelstilzchen geworden wäre, wenn es sie nach Sachsen verschlagen hätte. (Wobei es Rumpelstilzchen auch diesmal nicht gut ergeht – irgendwie war das auch vorher schon eine blöde Idee, dem geldgierigen König das ganze Stroh zu Gold zu spinnen – Dankbarkeit kann man von Fürsten nun wirklich nicht erwarten.)
Aber Silvia Sachse hat auch noch ein paar andere Märchen von anderen Leuten ins Sächsische umgedichtet – die Prinzessin auf der Erbse ist ja ein Andersen-Kind. Und das Rübchen kommt aus Russland. Und das kaputte Märchenbuch hat sie selbst erfunden, eine Art Potpourri aus einem halben Dutzend Märchen, in dem es munter hin und her geht, sich alles aber trotzdem um die einzig entscheidende Frage dreht: Wer kriegt die Prinzessin? Oder sollte man besser sagen: Wer will sie eigentlich haben? Oder: Wer will sie eigentlich loswerden? Denn es gibt ja auch ein paar schrecklich geplagte Könige, die ihre renitenten Töchter gern in die Wüste schicken möchten. So wie im richtigen Leben eben, wo auch die Schagliens gern ihre Siebensachen packen, wenn’s ihnen dorheeme zu putzig wird.
Am Ende weiß man eine Menge über das Völkchen, das da an Pleiße und Mulde wohnt und sich nicht doodgriechen lässt, von was auch immer. Und trotzdem gern heemdiggsch wäre. Wenn es das nur richtig könnte. Aber nicht mal der Wolf bringt das fertig, obwohl er die Großmutter gern schon mal zum Schweigen gebracht hätte. Deswegen werden einige Märchen auch ein bisschen länger als gedacht und gibt es immer noch ein, zwei Varianten mehr, die hätten passieren können. Sachsen ist das Land der Beinah-Märchen. Aber genau das darf man auch erwarten von einem Volk, das sich zwar ab und zu einen Geenich gönnt, aber nicht wirklich daran glauben kann, dass Prinzen, Könige und andere Emporkömmlinge bessere Leute sind.
Silvia Sachse Dornröschen off dr Erbse, bebildert von Thomas Oberbuchner, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2015, 10 Euro.
Am 17. März 2016 findet im Rahmen der Buchmesse im Berufsförderungswerk Leipzig, Georg-Schumann-Str. 148, um 19 Uhr eine Lesung mit Silvia Sachse und ihren Märchen statt.
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