Bei diesem Buch ist Vorsicht angeraten. Steht zwar Bilderbuch drauf, ist aber nichts, was man Kindern in die Hand geben sollte. Zumindest, wenn sie gut schlafen sollen. Denn dieses Buch ist ein Alptraum. Alptraum mit P, nicht dieser verweichlichte Albtraum, den uns die letzten "Sprachreformer" serviert haben. Ein gar nicht so fern liegender Alptraum. Junge Frauen wissen das.
Denn eigentlich ist es Teil eines großen Selbst-Erforschungsprojekts, das die studierte Musikerin, die sich noch viel lieber um ein Grafik- oder Schauspielstudium beworben hätte, begonnen hat. Anna Mateur lebt in Dresden und macht zumindest in ihren aktuellen Programmen einen großen Bogen um Leipzig. Seit 2003 ist sie als Sängerin, Texterin, Schauspielerin und Zeichnerin mit ihrer Formation “Anna Mateur und Außensaiter” unterwegs. Natürlich hat sie einen braven bürgerlichen Namen: Anna Maria Scholz. Aber was soll man tun, wenn drinnen eine bunte Seele hockt und Großes will? Aufsehenerregendes?
Das ist im Grunde ihr Forschungsprojekt, das mal in den Sammelband “RIHCTIG” münden soll. Der “Wehwehchen-Atlas” ist quasi das erste Kapitel, das etwas ausführlicher geworden ist, weil die wilden Pferde mit der Künstlerin durchgegangen sind. Und um Wehwehchen in dem Sinn geht es auch nicht. Eher um die kleinen Unzulänglichkeiten, die wir alle haben. Und die wir gern alle schnell loswerden wollen sollen müssen.
Sie erwähnt es nur kurz. Es klingt wie ein Angebot der schönen neuen Kosmetik-Welt: Warum nicht hier ein bisschen reparieren am Po? In der Hüfte? Am Doppelkinn? Ist doch alles möglich. Dabei schreibt sie auf eine der ersten großen Zeichnungen für das Buch schön groß und deutlich: “Im Großen und Ganzen bin ich eigentlich recht zufrieden mit mir.”
Männer wissen, dass das ein ganz gefährlicher Satz ist, auf den man auf keinen Fall antworten darf mit: “Schatzi, du gefällst mir so wie du bist.”
Meistens kommt dann ein grimmiges: “Ja, DIR!”
Und Mann macht sich Vorwürfe. Dabei liegt’s gar nicht an ihm, sondern an einer Gesellschaft, von der mittlerweile die seltsamsten Leute auf den reichweitenstärksten Medienseiten behaupten, sie würde nur noch Egoismus und Individualismus befördern. Das sei quasi ein gesellschaftliches Phänomen, so eine Art Zeitgeist, obwohl der Geist einen recht simplen Namen hat: Pinkepinke.
Die Gesellschaft ist nicht egoistischer geworden, gieriger schon, rücksichtsloser auch. Nach all dem Geschimpfe auf die Töpfchenerziehung im finsteren Kommunismus darf man durchaus feststellen: Die Wirkungen einer gleichgeschalteten Werbung haben dieselben Effekte. Sogar schlimmere. Denn sie erreichen tatsächlich das Herz, die Träume und das schlechte Gewissen der Menschen. Das angeknackste Selbstbewusstsein sowieso. Und es sind nicht ganz zufällig Kinder und Frauen, die die Hauptzielgruppe einer Schönheitsdiktatur der Werbung sind.
Werbung lebt von Gleichmacherei und von einem penetranten Blonde-schlanke-Hausfrauen-immer-bereit-Ideal. Das war nicht mal zu Klementines Zeiten so schlimm. Und so penetrant, süßlich und mit sexueller Nötigung aufgeladen. Grundmelodie: Sex kriegste nur, wenn du nicht riechst, durchtrainiert bist, schlank wie eine Birke, braungebrannt wie ein Brötchen, große Augen hast, straffe Haut und einen Po wie ein Apfel. Vielleicht noch Pfirsich, aber ganz bestimmt nicht Melone. Achja, und jung musst du aussehen, kindchenhaft, Typ: Lolita. Anschmiegsam, ausführfähig, immer lächelnd – aber den Mund zu. Wenn Frauen in so einer Werbung den Mund aufmachen, hauchen sie oder machen Mhhhm, als wenn sie sonst was im Mund haben.
Und das ist überall: im TV, an den Plakatwänden, in den Zeitungen, Magazinen – von den ganzen “Frauenzeitschriften” gar nicht zu reden: ein durch und durch uniformes Bild von schönen, stets verfügbaren Rehgestalten.
Und Anna Mateur macht in ihrem Bilderbuch nur sichtbar, was passiert, wenn Frauen immer wieder an derselben Stelle hopp genommen werden, wie hinter jedem “Eigentlich gefalle ich mir” sofort das “Aber” kommt. Und damit jenes kleine Hintertürchen, das ganz schnell zum großen Werkstor wird, durch das Frauen (wenn sie sich das denn alle leisten können) in Scharen marschieren. Eine ganze neue Reparaturindustrie ist da entstanden, strafft Haut, formt Nasen, füllt Pobacken und Brüste, entfernt Speck, “korrigiert” Wangenpartien, Lider und Ohren…
Und genau dieses Bedrohliche des perfektionierten Körpers zeigt Anna Mateur in ihrem Buch. Aus der kleinen Unzufriedenheit wird eine größere, aus der kleinen Ergänzung eine große. Und mit beinah wollüstigem Behagen schildert sie, wie sie ihren schönen Körper immer weiter umbaut, den nächsten Idealen eines von Milliarden-Werbegeldern getriebenen Schönheitsmarktes anpasst, so dass am Ende eigentlich so eine Art Kunstmensch aus ihr wird.
Und auch wenn keine CD beiliegt, hat man die ganze Zeit die Musik der schlimmsten Werbe-Jingle im Ohr (die einem ja mittlerweile selbst im Supermarkt um die Ohren jaulen) und die super-fröhliche Musik, die die Verkündung eines “perfekten” Körperideals untermalt. Natürlich hat das Wirkung. Die erste Wirkung ist ja nicht, dass junge Frauen sich ihre schönen Brüste aufmotzen lassen. Das ist erst die dritte Stufe. Die erste ist die latente und mit der Jugend zunehmende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Nichts passt, weil 99,9 Prozent aller Frauen nun einmal nicht so hungerdünn sind wie die Werbe-Models. Anders sind sie sowieso.
Aber die Suggestion muss immens sein, die von dieser Dauer-Benervung ausgeht: Du bist schön, aber eigentlich … Das “eigentlich” ist das Schlimme. Das muss auch Anna Mateur kennen, sonst hätte sie nie und nimmer so ein böses Bilderbuch gemalt. Männer kennen andere “eigentlichs”. Die wirken etwas anders, aber ähnlich aussortierend.
Sind wir eine Kastengesellschaft?
Wir sind eine Schein-Kastengesellschaft. Etwas geradezu Archaisches (das aber in der Urzeit gar nicht da war) sorgt dafür, dass eine ganze Gesellschaft regelrecht besessen ist von einem Schönheitswahn, der eigentlich ein diktatorischer Gleichheitswahn ist. Man merkt es nur nicht, wenn man nur ein Bild sieht. Wenn man alle sieht, kommt einem das große Heulen, denn die blonden Dünnen sind ja nicht wirklich schön. Auch nicht sinnlich (auch wenn sie alle mit dummem Lolita-Blick von den Plakaten glotzen, als wären sie gerade ganz billig zu haben – meistens für 9,99 Euro oder 27,90. Der Preis macht das Billige erst recht deutlich, das nicht nur in der Pose steckt.) Da ist eine ganze Industrie ganz und gar auf einem schlimmen Weg. Und Anna Mateur thematisiert das in diesem Buch, hemmungslos, rücksichtslos. Natürlich möchte man ihrer Kunstfigur immerfort Einhalt gebieten: Tu das nicht! Bitte! – Aber Männer wissen, wie wenig das nützt. Sie haben wenig Macht gegen das propagierte Ideal des perfekten Menschen. Denn darum geht es ja die ganze Zeit, nicht nur bei der genetischen Ausleserei.
Eine von blinder Gier getriebene Industrie kennt keine Abweichungen mehr, keine Weichheiten, Unperfektheiten, Eigenheiten. Sie will alles auf einen einzigen, normierten Nenner bringen. Und das ist der kleinste von allen, der seelenloseste. Auch das klingt an, wenn Anna Mateur Seite um Seite immer weiter geht. Frau wird zur künstlich perfektionierten Maschine. Natürlich übertreibt die Künstlerin noch mehr, als es sich die modernen Perfektionierer noch trauen. Aber sie sind ja alle längst dabei, die menschliche Unperfektheit zum Tabu zu machen. “Ihr müsst nicht so aussehen”, neckt die Autorin am Ende ihres Bilderbuchs und hält den Lesern einen Spiegel vor. Als wäre das Sanieren am Körper eine Art Lebenserfüllung, eine Art Ersatz für das Leben des eigenen, sehr zufälligen und unperfekten Lebens.
In diesem “Wehwehchen-Atlas” steckt eine große Portion Kritik an einer Industrie, die alles dafür tut, zweifelnden und zagenden (jungen) Menschen beizubringen, dass die perfekte Gleichheit der Höhepunkt der individuellen Erfüllung ist. Das ist der “Individualismus”, der überall angepriesen wird. Individuell ist daran nichts.
Da kann man gespannt sein, welche “Wehwehchen” Anna Mateur noch illustriert in den noch ausstehenden Kapiteln. Das erste “Wehwehchen” hat es ja schon gewaltig in sich.
Anna Mateur “WehWehchen-Atlas“, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2015, 19,90 Euro.
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