"Eine Erzählung für große Kinder" hat Thomas Bachmann seine Geschichte genannt, die irgendwie in einer Zeit spielt, die eben noch vertraut war. Es wird noch in D-Mark bezahlt, Lücken zwischen ergrauten Häusern prägen das Bild. Der Handel mit Buntmetallen ist gerade so richtig in Schwung gekommen. Und das Entsorgen von Denkmälern war gerade groß in Mode.

Man merkt: Die Geschichte hat schon lange auf einen Verlag gewartet. Wohl auch, weil solche Geschichten, die kein streng gerastertes Zielpublikum haben, es schwer hatten und haben in den üblichen Programmen der Verlage. Ein Kinderbuch ist es nicht. Und als das, was man heute als Jugendbuch versteht, kann man es auch nicht bezeichnen. Früher – lang ist das her – hätte es noch gepasst, als es in Verlagen noch Lektoren gab, die durchaus jungen Lesern auch zutrauten, dass sie sich mit ihrem eigenen, realen Leben beschäftigen. Auch beim Lesen. Und nicht gleich wieder das Buch zuklappen, wenn keine Zauberer, Drachen oder andere erfundene Helden drin vorkommen. Sondern eben auch mal Jugendliche, die sich mit schwierigen Eltern herumschlagen, Gewalt auf der Straße, Ärger in der Schule – und die mal keine Banditen jagen oder die Welt retten.

Oder verkennen Autoren, die sich so der Welt der jungen Leute annehmen, deren Interessen?

Bestimmt nicht. Schwer haben sie es trotzdem. Erst recht, wenn ihre Helden nicht aus der üblichen Standard-Mittelschicht-Familie mit eigenem Haus, Auto, Hund kommen. Sondern aus richtigen, manchmal auch richtig demolierten Familien. Restfamilien wie hier bei Grete und Friedrich, die bei der Oma leben, weil ihre Eltern tot sind. Und Omas Rente reicht augenscheinlich nicht weit. Die Drei schlagen sich leidlich durch. Die Kinder halten Ausschau nach einem Zuverdienst und landen bei einem recht schmierigen Schrotthändler, der sie losschickt, nach Buntmetall zu suchen, Kupfer am besten, ganz viel.

Womit sie in der Klemme sitzen, denn der Mann ist – was solche Leute manchmal darunter verstehen – ein Unternehmer. Einer, der sein Geschäft betreibt, indem er die Kunden übers Ohr haut und seinen Sohn Peter regelmäßig verprügelt.

Verständlich, dass die beiden Kinder Angst haben und sogar die Begegnung mit einem großen Rottweiler und einem wütenden Müllplatzwächter riskieren. Sie haben Glück. Sonst wäre so eine Geschichte aus den wirklich prekären Randbereichen unserer Gesellschaft ja nicht auszuhalten. Es gibt Menschen mit Herz, gleich mehrere, nicht nur ihre Oma, die sich sorgt. Oder Jette, die alleinerziehende Mutter, die den Rabenvater ihres Kindes endgültig in die Wüste geschickt hat. Oder ist er allein entfleucht? Es ist egal. Es ist ein Stück Gesellschaft, dass es auch heute noch gibt. Da und dort noch viel aggressiver, trauriger, glückloser. Das, was man so landläufig prekär nennt, weil die zugewiesenen Almosen gerade für das Nötigste reichen und Unfälle und Katastrophen eigentlich nicht eintreten dürfen, sonst ist die ganze mühsam aufrecht erhaltene Existenz kaputt.

Und Typen wie der gierige Schrotthändler wissen, wie man das ausnutzt. Oh, der Kerl ist ein echter “besorgter Bürger”, einer, der beim Jugendamt anruft und die Oma anschwärzen will, weil er glaubt, dass er das machen kann. Nur weiß er nicht, dass es um Grete, Friedrich und Oma herum so ein kleines solidarisches Netzwerk gibt. Menschen, die ein Herz haben, finden auch dann zueinander, wenn das Geld nicht reicht und Träume von Weißen Schiffen wirklich nur Träume sind, unbezahlbar. Aber da ist die kampflustige Jette, da ist die optimistische Eisverkäuferin, da ist ein seltsamer alter Mann, der den Kindern was vom Drachen erzählt. Und auch der Wächter an der Müllhalde entpuppt sich eben nicht als der übliche Filmbösewicht, wie er im Kinder-TV die Helden zum Kreischen bringt. Dass Menschen sich in miserablen Jobs wiederfinden, hat ja in der Regel wenig mit ihrem Fleiß, ihrer Qualifikation oder ihrem Charakter zu tun. Das war vor wenigen Jahren ja noch viel ärger als heute.

Auch wenn sich die Sicht auf “die da unten” nicht wirklich geändert hat. Was auch mit den falschen Bildern zu tun hat, die heute von Bedürftigsein und Kindheit gemalt werden. Armsein ist in der Kindheit nach wie vor ein elementares Erlebnis. Es verändert die Weltsicht. Für Grete und Friedrich geht es nicht um das üblichen Habenwollen, Coolsein oder “Action”. Deshalb ist ihr Konflikt auch bedrückender. Sie können nicht einfach Papa anhauen, dass er mal Geld rausrückt. Sie müssen selber einen Weg finden, aus dem Schlamassel zu finden. Und gerade Friedrich leidet darunter. Auch das etwas Besonderes an dieser Geschichte: Bachmann vermeidet die üblichen Junge-Mädchen-Klischees, auch wenn es dann am Ende ein wenig märchenhaft wird. Aber gerade der Fund auf der Müllhalde ist nicht wirklich der Kern der Geschichte.

Der Leser ist ja vorgewarnt durch den Buchtitel: Um was es geht.

Oder besser: Worum es eigentlich geht. Nämlich im richtigen Leben, da, wo es darum geht, Verantwortung füreinander zu zeigen, Vertrauen zu haben und aus dem Wenigen, was man hat, trotzdem etwas Ordentliches zu machen. Und für den Leser heißt es: etwas aufmerksamer zu werden. Eine Geschichte, die in ihrer Entstehungszeit wichtig war. Und die ihre Botschaft nicht verloren hat. Denn wenn die Verachtung für die Armen und Bedürftigen in einer Gesellschaft um sich greift, dann ist sie auf dem falschen Kurs. Dann geht der Kitt verloren, der sie noch zusammenhält. Und das ist nun einmal nicht das Geld, sondern die Achtung voreinander.

Also doch noch nicht zu spät veröffentlicht. Vielleicht sogar gerade richtig. Als emotionaler Kontrapunkt zu einer bunten und oberflächlichen Abenteuerwelt, die den jungen Lesern etwas vorspiegelt, was mit dem Leben der Meisten gar nichts zu tun hat. O, langweilig ist das Leben in prekären Verhältnissen ganz und gar nicht. Nur sind die Abenteuer viel aufreibender, weil sie immer gleich ans Existenzielle gehen. Und weil sich gerade da erweist, auf wen man wirklich setzen kann – und wer kneift, wenn Hilfe gefragt ist.

Thomas Bachmann “Um was es geht, Lychatz Verlag, Leipzig 2015, 15,95 Euro.

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