Das, was die Evangelische Verlagsanstalt in einer großen Reihe "Orte der Reformation" für echte Sammler und Reisende in der Luther-Dekade vorgelegt hat, das hat der Leipziger Theologe und Journalist Matthias Gretzschel hier einmal kompakt versucht: alle wichtigen Luther-Orte in ein handliches Buch für Reisende zu packen.

Denn mittlerweile lädt ja die Reformationslandschaft auf vielfache Weise ein. Auch der sächsische Lutherweg (zu dem Leipzig gehört) ist mittlerweile eröffnet. Und alle wesentlichen Luther-Städte haben in den letzten Jahren eine Menge Geld in die Hand genommen, um die Museen und Erinnerungsstätten für den berühmten Reformator zu sanieren und zu modernisieren. Auch wenn manchmal das falsche Haus zum Besuch einlädt – etwa in Eisleben, Luthers Geburtsstadt. Aber daran sind die heutigen Forscher nicht schuld. Der Fehler liegt oft genug schon im 19. Jahrhundert oder noch früher, als auch die Geschichtsforschung oft genug eine spekulative Sache war und die umlaufenden Legenden im Volksmund auch von ernst zu nehmenden Heimatkundlern für bare Münze genommen wurden.

Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig, auch wenn Matthias Gretzschel auch ein paar Worte über die Aura der Orte verliert. Die entsteht aber eigentlich nur im Kopf des Betrachters. Jede Reise auf den Spuren einer berühmten Persönlichkeit ist immer auch ein Versuch, sich Geschichte zu rekonstruieren. Rekonstruktion trifft auf Rekonstruktion. Immerhin sind etliche originale Lutherstätten im Lauf der vergangenen 532 Jahre schlicht Opfer der Naturgewalten geworden. Es stehen neue Bauten oder Wiederaufbauten am selben Ort. Manche dieser Aufbauten von den betroffenen Städten sogar ganz bewusst in der alten Form wieder hingestellt, denn der Lutherkult begann tatsächlich schon zu Luthers Lebzeiten. Und das erste Geschichtsmuseum auf deutschem Boden war ein Luthermuseum.

Liebevoll wurden die Orte bewahrt, an denen der Professor aus Wittenberg (der eigentlich gar nicht hatte Professor werden wollen) weilte, predigte, lebte. Natürlich ist das Lutherhaus in Wittenberg, wo er mit seiner Käthe glücklich war, das Zentrum dieses Universums. Aber schon in Wittenberg beginnt die Rekonstruktion – während Luthers Wohnhaus, Stadtkirche, Melanchthonhaus und Leucorea fast noch im Originalzustand (oder im liebevoll restaurierten Ursprungszustand) zu besichtigen sind, wird schon beim – im Grunde verschwundenen – kurfürstlichen Schloss (das von den Preußen sinnigerweise in eine Kaserne umgebaut wurde) spürbar, dass selbst der Ruhm eines Friedrich des Weisen nicht genügte, repräsentative Bauten vor der Verschlimmbesserung zu bewahren. Ähnliches gilt im Grunde für die Schlosskirche, auch wenn es hier Naturgewalten waren, die das Original zertrümmerten. Und die originale Kirchentür, an die Luther (der Sage nach) seine 95 Thesen anschlug, wurde im 30jährigen Krieg von Landsknechten verfeuert.

Da kann man natürlich jetzt vor der im 19. Jahrhundert gegossenen Thesentür stehen und grübeln, ob einem der Anblick der alten Holztür mehr Erbauung gegeben hätte. Genauso, wie man in der Lutherstube auf der Wartburg nun dem einst legendären Tintenfleck nachtrauern muss, der wohl nur auf das Missverstehen eines Luthersatzes zurückging. Noch heftiger hat es ja die Augsburger und die Wormser getroffen. Und trotzdem haben sich auch die dort Engagierten bemüht, Luthers einstige Präsenz wieder erlebbar zu machen und vor allem die Bedeutung dessen nachvollziehbar zu machen, was mit diesem Mann zu tun hat, der ja gar nicht vor hatte, die Kirche zu spalten.

Das lässt Matthias Gretzschel zum Glück nicht weg, denn manche Lutherbiografie kann nicht wirklich gut erklären, wo der eigentliche Knackpunkt war, als Luther seine Thesen an die Kirchentür schlug. Es ging ja nicht nur um den übereifrigen Ablasshändler Tetzel. Der musste schon für Vieles herhalten, was gar nicht auf seinem Mist gewachsen war. Aber die eigentlichen Akteure des um sich greifenden Ablasshandels waren in ihrer Zeit mächtige Leute – der ferne Papst in Rom (der von dem Geld unter anderem den gewaltigen Petersdom bauen ließ) und der prunkliebende Kardinal Albrecht, der seinen fetten Anteil an den Ablassgeldern in eigene Prachtbauten steckte – unter anderem in seine Residenz in Halle. Und das ist von Wittenberg nur einen Katzensprung entfernt. Und der Kardinal wusste ganz genau, an wessen Geldbeutel die Luthersche Kritik ging. Dass er Halle später fluchtartig verlassen musste, ist Teil der Geschichte.

Im ersten Teil seines Buches gibt Matthias Gretzschel quasi die Grundgeschichte, die ein echter Luther-Wanderer  kennen muss, um all das, was vor 500 Jahren geschah, auch einordnen zu können. Bis hin zu der notwendigen Erklärung, warum Luther nach dem Wormser Edikt im Grunde das Land seines Fürsten, das damalige Kursachsen, nicht mehr verlassen konnte, ohne zu riskieren, sofort verhaftet und hingerichtet zu werden. Das Schicksal des Jan Hus war ihm ein Leben lang gegenwärtig. Und während Hus 100 Jahre zuvor der Zusage auf freies Geleit vertraut hatte, waren Luther und seine Freunde mittlerweile klüger. Auch die Scheinentführung auf die Wartburg gehört in diesen Teil der Erzählung.

Gretzschel teilt diese Lebensschilderung in schöne übersichtliche Kapitel, in denen das Leben Luthers sich anhand seiner Lebensstationen (Eisleben, Mansfeld, Magdeburg, Eisenach usw.) übersichtlich abspult. In jedem Kapitel lernt man die Orte kennen, erfährt die wichtigsten Wendepunkte und Motivationen im Leben des Burschen, der eigentlich (so wollte es sein Vater) in Erfurt zum Juristen werden sollte, und man lernt alle wichtigen Persönlichkeiten kennen, die ihm an jeder Station begegneten. Und das Schöne für verregnete Zugfahrten oder ein Durchblättern zuhause: Der Band ist reich bebildert. Mittlerweile sind ja auch die modernen Fotoarchive gefüllt mit prächtigen Aufnahmen. Lutherorte gehören zu den beliebtesten Fotomotiven aus Mitteldeutschland (und zum UNESCO Welterbe gehören einige der Orte berechtigterweise auch).

Und wenn man sich durch dieses reich bebilderte Lutherleben gelesen hat, gibt es alle erwähnten Städte noch einmal in einer alphabetischen Übersicht mit einer Auflistung aller wichtigen Sehenswürdigkeiten vor Ort. Man kann den Band also wirklich mit auf Reisen nehmen und sich seine Luthertour selbst organisieren. Die prächtig restaurierten Städte bekommt man sozusagen als Dreingabe.

Leipzig kommt auch drin vor, auch wenn man gerade in Leipzig eine Menge Phantasie braucht, um sich die (von Luther nicht allzu sehr geliebte) Händlerstadt zur Zeit der Leipziger Disputation 1519 vorzustellen. Das Haus, in dem Melchior Lotter den Gast aus Wittenberg beherbergte, ist genauso einem Nachfolgebau gewichen wie Auerbachs Hof, wo Luther wahrscheinlich mehrmals den Besitzer Heinrich Stromer aus Auerbach besuchte. Die Thomaskirche wurde zuletzt im 19. Jahrhundert kräftig umgebaut, die Paulinerkirche (die Luther als Universitätskirche einweihte) ist weggesprengt worden und das kurfürstliche Schloss, in dessen Hofstube die Leipziger Disputation stattfand, ist so sehr Legende, dass auch Gretzschel glaubt, die Disputation hätte in “der alten Pleißenburg” stattgefunden, auf deren Grundmauern dann das Neue Rathaus erbaut wurde. Aber die Pleißenburg wurde eindeutig nicht auf den Grundmauern des kurfürstlichen Schlosses erbaut. Das hat Bürgermeister Hieronymus Lotter 1547 komplett abreißen lassen – samt Hofstube und Schlosskirche, wo Luther auch gepredigt hat, 1539, als er in Leipzig wieder predigen durfte.

Aber bis auf diesen echt Leipziger Schnitzer ist das Buch eine reiche Einladung, die schönsten Tage des Jahres einfach mal zu einer Lutherrundfahrt zu nutzen. Man lernt so nebenbei auch eine Menge Mitteldeutschland kennen, einige der schönsten Städte in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen sowieso. Und man lernt diesen beharrlichen Gottsucher besser kennen, für den sein Rombesuch von 1510 / 1511 der Stein des Anstoßes wurde. Reisen hat schon im 16. Jahrhundert geholfen, die Welt besser zu verstehen.

Matthias Gretzschel “Auf den Spuren von Martin Luther, Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2015, 14,95 Euro

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