Da ist ein Loch, befand Henner Kotte, als er auf die Landkarte mit den berühmten Verbrechern und Verbrechen schaute. Die Sächsische Schweiz war ein weißer Fleck. Als hätte es da niemals Mord und Totschlag gegeben. Wird Zeit, dass sich das ändert, fand der Leipziger Krimi-Autor, setzte sich hin und verpasste dem Kletterparadies erst mal ein paar saftige Todesfälle. Neun Stück. Sozusagen als Appetithäppchen und Einstiegskost.
Und das für alle, die die Sächsische Schweiz einfach nur romantisch finden und sich nicht vorstellen können, dass hier – mal von abstürzenden Bergsteigern abgesehen – Menschen gewaltvoll zu Tode kommen. Ach ja, auch noch von der Schreckenszeit der Nazis abgesehen und der rabiaten Niederwerfung der Slawen. Aber ansonsten war’s hier doch friedlich, oder?
Muss ja nicht, meint Kotte. Und schreibt auch gleich noch ein Vorwort zu seinen neun ganz modernen Kriminalfällen, in dem er nebenbei verrät, dass er die Gelegenheit seines Ausflugs ins Elbsandsteingebirge auch dazu nutzte, mal wieder seine alten Krimis durchzuschmökern, all diese Agatha Christies und Arthur Conan Doyles und Gilbert Keith Chestertons. Denn tatsächlich sind seine Geschichten auch versteckte kleine Ehrerweisungen an die großen Kriminalautoren der klassischen Zeit. Und an die großen Novellisten, an Keller und Storm. Das liegt am kleinen Seitentürchen, das Kotte gern nimmt, seit er sich mit der Novelle “Romeo und Julia auf dem Lande” von Keller etwas eingehender beschäftigt hat, deren Vorbild ja bekanntlich in Leipzig spielte, im damals noch dörflichen Volkmarsdorf.
Und bevor der Krimi nach englischem Strickmuster die deutschen Buchhandlungen eroberte, waren dort – neben den bräsigen historischen Schinken – vor allem die Novellenbände zu Hause. Die deutschen Leser liebten ihre Novellisten. Denn eine gute Novelle – Goethe hat’s ja schon geahnt – ist im Grunde eine saubere kleine Kriminalgeschichte. Mit Ãœberraschungseffekt. Geschichten, die ganz sachte daherkommen, entpuppen sich als dramatisches Ereignis. Im Nachhinein. Niemand hat’s geahnt. Und doch ist mitten in der Idylle eine Tragödie passiert.
Davon passieren hier genau neun. Einige wirklich mit Finesse ausgedacht und mit scheinbar authentischen Schnipseln aus der Zeitung unterlegt. Als wären sie tatsächlich passiert. Manche hat Kotte regelrecht mit echter Theaterdramatik unterlegt. In “Die Frau Reihe 3” ist es tatsächlich der “Freischütz”, der in einer dramatischen Nacht auch noch die innere und äußere Musik beisteuert. Und ganz so abwegig ist auch die Geschichte “Killer in Krippen” nicht, in der sich in alten Stasiakten die Spur eines Mordkommandos findet.
Da und dort wechselt Henner Kotte auch ins Nachbargenre der Gruselgeschichte (die heute kaum noch jemand pflegt, weil man mit Särgen, Totengräbern und Knochen niemanden mehr wirklich erschrecken kann). Was einen hübschen Nebeneffekt hat, denn während die großen Gruselautoren des 19. Jahrhunderts noch mit der Grenzgängerei zwischen Realität und Spukwelt spielen konnten, wird in der ersten Geschichte “Totenfall vor der Pension Idylle” die Grenze abgeschritten zwischen der medialen Leichtgläubigkeit und den zuweilen recht ironischen Zusammenhängen in der Wirklichkeit. Das alte Entsetzen funktioniert nicht mehr. Und trotzdem tun die großen Schlagzeilenmacher so, als sei die Welt von Dämonen besessen.
In der Geschichte “Der Minotaurus frisst kleine Kinder” widmet sich Kotte einem Dämonen-Motiv der anderen Art, dessen Vorbild man ebenfalls in der klassischen Novellenliteratur suchen darf. Denn hier verwebt sich eine scheinbar moderne Geschichte über ein spurlos verschwundenes Kind mit ganz alten Motiven des psychologischen Romans: Kann im vertrauten Mitmenschen ein Unheil lauern? Und zu was sind Menschen in der Lage, wenn sie das Liebste und Teuerste verlieren?
Das ist die Klaviatur der großen romantischen Erzählung, die zumeist mit “über Nacht weiß gewordenem Haar”, plötzlich ausbrechendem Wahnsinn oder einem theatralisch inszenierten Selbstmord endet.
Einige der Autoren, die er sich als Vorbild genommen hat, erwähnt Henner Kotte an einschlägiger Stelle. Die meisten aber lässt er weg. Man muss ja nicht alles verraten (obwohl eine Bücherliste am Ende des Bandes ein Genuss wäre – gerade für jüngere Leser, die den klassischen Kanon der Kriminal- und Schauerliteratur gar nicht mehr kennen). Es ist also ein mehrfacher Ausflug in Zeit, Raum und Literatur. Und damit natürlich auch ein Versuch, der Sächsischen Schweiz endlich auch mal so etwas wie eine literarische Seele einzuhauchen. Was ist ein Urlaubsparadies ohne diesen Hauch von “Es war einmal”?
Einige Geschichten werden durchaus turbulent, da nimmt der Autor auch noch die alten literarischen Vexierspiele mit allerlei honorigen Adligen aufs Korn, die in manchen Genres heute noch die Seiten bevölkern. Noch ein kleiner Schritt, und er wäre in den bösen kleinen Satiren von Roald Dahl gelandet.
Im Grunde zeigt Kotte so fast beiläufig, welcher Reichtum in den alten und heute selten noch gepflegten Erzählformen steckt und dass auch Kriminalgeschichten nicht immer nach dem mittlerweile immer gleichen Muster ablaufen müssen, in denen sich die Gesellschaftskritik oft genug in der verbissenen Beschreibung erfolgloser Polizeiarbeit verzettelt. Und die Täter sind dann in der Regel Psychopathen und Gefühllose aller Art. In Kottes Geschichte lebt noch ein bisschen die alte Faszination an der Tragödie, die sich da in scheinbar idyllischer Kulisse abspielt – einer Tragödie, die sich längst spürbar anbahnt, zusammenzieht wie ein Unwetter und dann aufreißt mit aller Wucht. Was einige durchaus erschütternde kleine Geschichten ergibt, die sich zwischen fröhlichen Spielen mit Motiv und Material finden. Quasi für jeden Wanderer ist was dabei. Der Autor wünscht sich ja, dass man das Büchlein mitnehme auf die Wanderung durch die Berge und unterwegs weitererzähle, damit die Sächsische Schweiz endlich auch einmal zu dem Legendenstoff kommt, den sie verdient hat.
Henner Kotte “Blutige Felsen“, Bild und Heimat, Berlin 2015, 9,99 Euro
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