Wer seine Hanse-Tour noch nicht geplant hat, kann nun langsam anfangen damit. Der Reigen vervollständigt sich. Auch in Rostock war Steffi Böttger, hat Kirchen bewundert und sich mit Architekturgeschichte beschäftigt. Sie liebt Kirchen. Bei St. Marien ist sie sieben Seiten lang aus dem Schwärmen nicht herausgekommen.

Wahrscheinlich muss man das einfach auch mal tun: Mit offener Seele in andere Städte reisen, sich überraschen lassen und einfach mal staunen und sich hinreißen lassen. Es ist zum Glück nicht überall gleich. Und manches ist ganz schrecklich anders. Und das ist gut so, weil sich erst dann das Wegfahren auch lohnt. St. Marien ist eine Kirche, die im Inneren ihre Pracht entfaltet. Und so etwas hat Leipzig wirklich nicht: barocke Prachtentfaltung im Original. Man traut es den Hanseaten eigentlich nicht zu. Aber der Blick lohnt. Auch der zweite. Etwa auf St. Nikolai, wo selbst Kirchenkennerin Steffi Böttger den Kopf schüttelt vor Staunen. Denn was die Rostocker mit ihrer Nikolaikirche angestellt haben, das hätte wohl die Leipziger auf die Palme gebracht: “Außergewöhnlich ist die Nutzung der Turmgeschosse und des hohen Dachbodens für Wohnungen und Büroräume, Einschnitte für Dachterrassen in Kirchendächern sind ein nicht ganz alltäglicher Anblick.”

Die Rostocker sind vielleicht trainierter, was den Umgang mit Alt und Neu betrifft, als die Leipziger. Wagemutiger. Was man auch beim alten Franziskanerkloster sieht, das die Rostocker kurzerhand mit alten Ziegelmauern und neuem Glasaufsatz in ihre Hochschule für Musik und Theater verwandelt haben. Altes nicht verstecken, ist wohl das Motto. Neues zeigen. Vielleicht auch: Nun erst recht. Denn auch Rostocks alte Stadt war ja Experimentierfeld der sozialistischen Paradestraßenbauer. In Rostock traf es die Lange Straße, wo dann DDR-Stararchitekt Henselmann am Ende noch ein paar hanseatische Erker in die Baupläne zeichnete. Am Ende muss man leben lernen mit solchen Straßen. Da begegnet dann eben Altehrwürdiges (wie beim Uni-Campus) dem Neuen (wie bei der Raumklammer), stehen alte und auch teilweise wieder aufgebaute Stadttore neben allerlei mutigen Brunnen aus DDR-Zeiten.

Immerhin galt es damals auch die Folgen der schweren Bombardements im 2. Weltkrieg zu überwinden. Rostock als kriegswichtige Hafenstadt war schon 1942 dran und wurde von Bombenteppichen platt gemacht.

Wer mag, findet auch die entsprechenden Museen unterwegs. Das Kulturhistorische Museum zum Beispiel, das die Rostocker ebenfalls in einem Kloster untergebracht haben – dem zum Heiligen Kreuz in diesem Fall. Maritimes findet man im Historischen Societäts-Gebäude. Und auch diese Hanse-Stadt hat ihre großen Autoren. Walter Kempowski ist es in diesem Fall, der seiner Geburtsstadt sein Archiv hinterließ. Steffi Böttger empfiehlt bei dieser Gelegenheit, unbedingt seine “Deutsche Chronik” zu lesen. Das Kempowski-Archiv kann man auch besuchen, wenn man nach der Begegnung mit dem Blücher-Denkmal nicht gar zu kriegerisch drauf ist.

Ein Aufkleber auf dem Cover verrät, dass man Rostock im Huckepack mit Warnemünde bekommt. Aber vielleicht sollte man den Kraftakt, beides an einem Tag schaffen zu wollen. doch lieber nicht versuchen. Denn spätestens im Stadthafen wird man schon ziemlich groggy sein. Da kann man sich zwar bei der Hafenrundfahrt ein bisschen erholen, aber um sich in Warnemünde wenigstens die wichtigsten Sachen anzuschauen, sollte man wohl doch ein bisschen Zeit im Sack haben. Denn den Leuchtturm wird man ja wohl genauso besuchen wollen wie das Heimatmuseum und die Fischerkate, in der Edvard Munch 1907 logierte. Der hatte es damals nicht so eilig, auch wenn die Warnemünder auf seine Malerei sehr irritiert reagiert haben sollen.

Kann passieren. Dass eine Stadt sich so ein schniekes Ostseebad zulegt, heißt ja noch nicht, dass man auch gleich die Kunst der neuen Zeit versteht. Oder nicht erschrocken ist, wenn die Künstler Dinge sehen, die man im eigenen Rausch der neuen Zeit noch nicht zu sehen vermag. Dabei gab’s ja schon seit 1890 die Neptunwerft. Rostock knüpfte auf neue Weise an die großen Zeiten der Hanse an, die 1677 mit dem Großen Stadtbrand für Rostock zu Ende gingen. Die Ängste, die man in Ostdeutschland heute so gut kennt, diese Ängste vorm Verlust einer ruhmreichen Lage in der Welt, die sind so neu gar nicht. Städte müssen sich immer wieder neu erfinden, auch und gerade dann, wenn sie von der Weltlage gebeutelt werden und wurden.

Man hat gewissermaßen eine Stadt vor Augen, die die Blessuren ihrer Vergangenheit und die Spuren der Neuanfänge sichtbar zeigt. Bis hin zu einer quasi leeren Seite auf dem Markt, diesem Einbruch der sozialistischen Platz-da-Politik, die so viele ostdeutsche Städte gebeutelt hat. Aber da ist es ganz beruhigend zu erfahren, dass Erika Fuchs aus Rostock stammt, die für die Übersetzung der Mickey-Maus-Hefte die schönen Sprechblasen “würg”, “seufz”, “stöhn” erfunden hat. Das sind doch schöne Vokabeln, die man sich auf jeder Reise mit einpacken kann, um sie dann wonnevoll hinauszusingen an Orten, an denen Onkel Dagobert und Co. mal architektonisch wieder vollkommen daneben gehauen haben.

Steffi Böttger “Rostock an einem Tag. Inklusive Warnemünde, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 4,95 Euro

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar