Bei diesem Titel darf man sich nicht irritieren lassen. Hier geht es nicht zurück ins Mittelalter. Hier geht es auch nicht um Buße oder Sündenablass. Herausgeber Dirk Klingner hat sich mit seinen beiden Co-Autorinnen Susanna Endres und Patricia Fritsch auf eine ganz moderne Erkundung gemacht. 20 ausgeschilderte Routen in Deutschland, Östereich und der Schweiz haben sie gefunden.
Und nur die Wenigsten stammen tatsächlich aus dem Mittelalter. Der bekannteste ist natürlich der Jakobspilgerweg, der in neuerer Zeit (und erst recht seit Hape Kerkelings Bestseller “Ich bin dann mal weg”) ein echtes Comeback gefeiert hat. Aber auch eher nicht im klassischen Pilgersinn des Mittelalters, auch wenn es diese Wanderer nach Santiago de Compostela auch heute noch gibt. Denn wer sich heutzutage auf die Socken macht, der tut es meist aus ganz ähnlichen Beweggründen wie Hape Kerkeling. Der verlässt sehr bewusst die Tretmühle eines Alltags, der nicht nur von allerlei Mobilen geprägt ist, von Zeitdruck und allgegenwärtiger Rufbereitschaft. Tatsächlich ist er auch von früh bis spät mit Informationen gesättigt, lebt der Mensch in einer lärmenden Soße von Nachrichten, Terminen, Meldungen, Anrufen, Anwesenheitspflichten, kommt weder zum Nachdenken, noch zu sich selbst. Und selbst die Urlaube sind bei den Meisten vollgepackt mit Aktivitäten und für ein echtes Abschalten eigentlich zu kurz.
Und wenn dann mal einer abschaltet, riskiert er, dass sich die im Alltag so gut verdrängten und gebändigten Mahnungen des Körpers alle auf einmal melden.
Doch jedes Bedürfnis – auch wenn es sich die Meisten nicht eingestehen – schafft sich doch irgendwann Raum. Das begann gleich nach 1990, als sich überall Initiativen gründeten, die den alten Jakobspilgerweg wieder zum Leben erweckten und neu beschilderten. Oft nicht wirklich da, wo er im Mittelalter einst verlief, denn aus den alten Handelswegen, auf denen die Pilger unterwegs waren, sind ja überall Staats- und Bundesstraßen oder Autobahnen geworden. Die neuen Wege folgen zumeist gut ausgebauten überregionalen Wanderwegen und führen auch in der Regel durch faszinierende Landschaften, weitab vom Lärm der Straßen. Allein das Laufen sorgt schon dafür, dass sich nicht nur das Lebenstempo wieder ändert und die täglichen Bedürfnisse eine völlig neue Reihenfolge einnehmen. Es regt auch an – entweder zu langen, sehr ruhigen Gesprächen mit den Begleitern auf der Wanderung, oder zu einem intensiveren Nachdenken. Auch einem anderen Nachdenken.
Darin ähnelt die moderne Pilgerschaft ganz bestimmt der alten, denn nichts zwingt so sehr zur Beschäftigung mit sich selbst, als die völlige Abkehr vom Tagesgeschäft und die Bewältigung eines selbst gewählten Weges. Nicht jeder nimmt sich gleich die große Route bis nach Spanien vor. Und auf dem Jakobsweg allein muss man auch nicht bleiben. Eine ganze Reihe kürzerer und längerer Routen sind in den letzten Jahren in ganz Deutschland entstanden. Einige schließen direkt an lokale Religionsgeschichte an, laden ein, sich auf dem Sigwardsweg, dem Elisabethpfad, dem Wendelinus-Pilgerweg oder dem Leonhardsweg die Geschichte wichtiger Persönlichkeiten zu erwandern. Manche Routen laden ein, die Kirchen, Klöster und Kapellen einer Region kennen zu lernen.
Aber schon beim ersten Blättern in diesem kleinen Reiseführer merkt man: Etliche dieser Pilgerwege führen nicht nur durch protestantische Landschaften – wie die Via Baltica, sie verkörpern auch einen zutiefst ökumenischen Geist. Ob nun der Harzer Klosterwanderweg, der auch lauter Klöster berührt, die heute als Kulturstätten dienen, oder der direkt so ausgewiesene Ökumenische Pilgerweg, der durch Sachsen und Thüringen führt und eigentlich Teil des Jakobsweges ist, auf dem sich nun also Wanderer aller Professionen treffen können. Das Ziel wird für Jeden ein anderes sein, der Weg ist für Alle derselbe.
Und einige dieser neuen Routen zeigen natürlich auch, wie sehr sich Pilgern, Wandern und Tourismus heute verbinden. Man geht auf die Tour, um auch ein Stück Geschichte zu erleben – wie etwa auf dem in diesem Büchlein geschilderten Lutherweg in Sachsen-Anhalt. Die Lutherwege in Thüringen und Sachsen sind ja erst auf die Beine gekommen, als der in Sachsen-Anhalt schon fertig war.
Es gibt leichte Wege, kurze Wege, aber auch Touren, die es in sich haben. Was man etwa merkt, wenn die beiden Schweizer Jakobswege geschildert werden. Wer da keine Puste hat, schafft die Höhenunterschiede nicht. Aber zu jedem Weg gibt es natürlich auch alle notwendigen Hinweise zur Anreise, zu Länge und Etappe, Wegeprofil und Übernachtungsmöglichkeiten. Jede Route hat ja längst ihre eigene Website, wo man auch die nötigen Kontakte findet.
Manche der angebotenen Routen lohnen sich für eine kurze Auszeit. Da muss man nicht lang überlegen, bucht und fährt los. Aber einige Touren brauchen ganz bestimmt eine ordentliche Vorbereitung und man sollte sie ohne die richtige Kondition lieber nicht angehen – wie den “Weg des Buches”, der quer durch Österrreich führt und eigentlich ein uralter Schmugglerweg ist, auf dem protestantisches Schriftgut von Süddeutschland zu den kleinen protestantischen Gemeinden im Bergland gelangte.
Aber erzwingen darf man auf solchen Wegen nichts. Dann machen sie keinen Sinn. Mit kleinen eingesprengten Zitaten erinnern die Autoren daran, dass es auch im Mittelalter eher nicht darum ging, unbedingt binnen kurzer Frist ans Ziel zu kommen. Zur Bonifatiusroute in Hessen gibt es zum Beispiel die weise Erkenntnis von Augustinus: “Die Menschen gehen in die Ferne, um die Berggipfel zu betrachten, doch an sich selbst gehen sie vorbei.”
Das sagt eigentlich alles. Das schmale Büchlein ist eine Einladung, sich selbst doch einmal eine Auszeit zu nehmen, keine neuen Bürden aufzupacken, kein Urlaubsprogramm zu schnüren, sondern einfach loszulaufen und sich wieder den eigenen Füßen anzuvertrauen – und den eigenen Gedanken.
Dirk Klingner “Pilgerrouten. Wege für die Seele“, St. Benno Verlag, Leipzig 2015, 9,95 Euro
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