Martin Burkert ist ein Wanderer zwischen den Welten. Von 1993 bis 2002 war der Jurist aus Bayern Präsident des Landgerichts Leipzig. Seinen Ruhestand verbringt er seit 2002 in einem Städtchen namens Spalt in Mittelfranken. Unter anderem als Stadtführer mit dem Spezialgebiet "Spalatin". Spalatin? Bei Luther-Kennern dämmert bei dem Namen was: als Erzieher und Geheimsekretär stand er in Diensten Friedrichs des Weisen.
Das war der Landesherr, der in Wittenberg nicht nur eine eigene Universität gründete, sondern der auch versuchte, die besten Leute als Professoren zu binden. Einen gewissen Mönch namens Martin Luther zum Beispiel. In Wittenberg sind sich die beiden begegnet. Vielleicht auch schon in Erfurt, wo beide studiert haben. Der junge Georg Burckhardt, der sich wenig später nach seiner Geburtsstadt Spalatin nennen würde, sogar außerordentlicherweise. Denn als unehelicher Sohn eines gewöhnlichen Bürgers aus Spalt hätte er wohl gar nicht das Geld gehabt, in Erfurt zu studieren. Und selbst die Vermutung, er sei der uneheliche Sohn eines Rotgerbers aus Spalt sei wohl unhaltbar, schreiben Burkert und sein Co-Autor, der Theologe Karl-Heinz Röhlin. Dagegen sprechen schlicht die Daten aus den verfügbaren Quellen.
Ihr Buch ist nicht die erste Biografie für den wohl zeitlebens etwas schüchternen Mann, der sich – auch ohne die entsprechenden Universitätsabschlüsse – als Historiker, Jurist und Theologe einen Namen machte. Aber selbst die jüngste Biografie ist ein halbes Jahrhundert alt. Höchste Zeit für eine ganze Reihe von Korrekturen. Es ist auch eine kleine Streitschrift, die Burkert und Röhlin hier geschrieben haben. Irgendwann nervt es einfach, wenn immer wieder die falschen, durch nichts belegten Behauptungen kolportiert werden. Immerhin ist Spalatin der berühmteste Sohn der kleinen Stadt. Und ohne ihn hätte es wohl die Reformation nicht gegeben. Denn er nahm im entscheidenden Moment genau die Stellung ein, die Luther brauchte, um überhaupt noch dem Schutz seines Landesherrn Friedrich des Weisen zu genügen, eines Fürsten, den die beiden Autoren ein wenig anders schildern als die meisten anderen Biografen – als zögerlich, aber auch friedliebend. Eine Type, die in heutigen Medien in der Luft zerfetzt werden würde, weil sie sich so überhaupt nicht als breitschultriger Draufgänger eignet, das Gegenteil eines Machers, eines Machos, wie es die gefeiertsten Krachnasen Europas heute sind.
Friedrich zögerte oft, dachte lange nach, ließ sich Zeit mit seinen Entscheidungen – er verabscheute direkte Konfrontationen, kriegerische Auseinandersetzungen sowieso. Ein echter Wettiner eigentlich, dem das Wohl des eigenen Landes und die gefüllte Staatskasse wichtiger war, als gegen rauflustige Amtskollegen oder gar den Kaiser für teuer Geld zu Felde zu ziehen. Auch deshalb gab ihm das Volk später den Namen “der Weise”. Es war genau der richtige Fürst für diesen Luther, der eigentlich auch ein Zauderer war, einer, der erst mal lange nachdachte und dann erst an die Öffentlichkeit ging.
Bevor er auch nur eine seiner Thesen veröffentlichte, hatte er darüber mit Freunden und Kollegen ausgiebig debattiert. Was trotzdem nicht verhinderte, dass sein Diskussionsangebot von 1517 sofort die ganze römische Kurie rebellisch machte. Wer anfängt, über die Bibel und die Selbstbestimmung des Gläubigen nachzudenken und über den Sinn von Ablasshandel und Pfründenschacher, der legt sich mit der kompletten Hierarchie an. Schon früh wurde Georg Spalatin da der vorsichtige Vermittler zwischen dem streitlustigen Professor, der nicht mal zu ahnen schien, was er da ins Rollen brachte, und dem übervorsichtigen Landesherrn, der jedem Zoff am liebsten aus dem Wege ging.
Aber würde der Luther auch schützen, wenn es hart auf hart käme?
Burkert und Röhlin zeichnen in ihrem Buch einen klugen, diplomatischen Kopf, der gerade in dieser brisanten Situation ab 1517 all seine Talente entfaltete, nicht nur den Fürsten bei der Stange hielt, sondern auch immer dabei war, wenn Friedrich der Weise als einer der großen Fürsten des Reiches unterwegs war und auf den Reichstagen politisch agieren musste. Und spätestens nach Luthers Auftritten bei der Leipziger Disputation 1519 und dem Reichstag von Worms 1520/1521 steckte der zögerliche Friedrich mittendrin in einem Streit, den er selbst nie gewollt hatte und in dem er auf einmal Partei war, obwohl er selbst bis fast zu seinem Tod Anhänger des alten, römischen Ritus war.
Wer hätte denn ahnen können, was Luther mit seinen Thesen auslösen würde? Wie die norddeutschen Fürsten gleich reihenweise die Reformation einführen würden und die römische Kirche alle, wirklich alle Hebel in Bewegung setzen würde, um diesen Luther unschädlich zu machen? Dass Luther 1521 nicht weggefangen wurde und auf dem Scheiterhaufen landete, das war wohl Spalatins Erfolg. Der hatte die Schein-Entführung auf die Wartburg schon vorher organisiert, wissend darum, wie rachesüchtig die Kurie war und wie wenig wert jeder kaiserliche Geleitschutz.
Bis zum Tod Friedrich des Weisen blieb Spalatin in Wittenberg, pflegte engste Beziehungen zu Luther und seinen Freunden. Burkert und Röhlin stellen auch jene Männer vor, die Spalatin halfen. Denn all seine Talente und all seine Klugheit hätten dem unehelichen Burschen aus Spalt nichts genutzt, wenn er keine Unterstützer in wichtigen Positionen gehabt hätte, die ihm die Ämter und – ja – auch Pfründen verschafften, die ihm eine Existenz sicherten. Sein wahrscheinlich begüterter Vater kommt ebenfalls ins Bild, was auch deshalb möglich ist, weil sich die beiden Autoren sehr gründlich mit dem Versorgungs-, Stifts- und Pfründenwesen um 1500 beschäftigt haben, dem im kleinen Städtchen Spalt im ganz Besonderen.
Manches kann nur als Indiz zitiert werden, ist aber logischer als die fadenscheinige These vom Rotgerber als Vater.
1525 ging Spalatin nach Altenburg, übernahm dort nicht nur eine Pfarrei, sondern gründete auch eine Familie. Das ist der Teil der Geschichte, in dem Burkert und Röhlin gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen scheinen, irgendeinen widerborstigen Biografieverdreher, der behauptet haben muss, Spalatin habe nun jeden Einfluss bei Hofe verloren.
Das war wohl nicht ganz so, auch wenn er zu Friedrichs Nachfolgern nicht ganz so enge Beziehungen hatte wie zum 1525 Gestorbenen. Er war auch noch immer Bibliothekar der Universitätsbibliothek in Wittenberg. Bis an sein Lebensende schrieb er an einer großen, vierteiligen Sachsenhistorie, besaß auch selbst eine reich bestückte Bibliothek. Das war damals ein wirklich teures Unternehmen. Aber er gründete – mit 41 Jahren recht spät – auch noch eine eigene Familie. Wirklich zur Ruhe kam er eigentlich nicht. Auch Friedrichs Nachfolger beorderten ihn immer wieder zu neuen Reisen zu Reichstagen oder später gar zu Tagungen des Schmalkaldischen Bundes, der wenig später die offene Konfrontation mit dem katholischen Kaiser suchen würde. Aber auch die Augsburger Konfession hat Spalatin zum Mitautoren.
Dass er sich trotzdem charakterlich stark veränderte, versuchen Burkert und Röhlin auf verschiedene Weise zu erklären – einmal mit seinem lebenslang nicht losgewordenen Minderwertigkeitsgefühl als außerehelich Geborener, zum anderen aus seiner körperlichen Leidensgeschichte, die ihn mindestens die letzen beiden Lebensjahre niedergeschlagen machte. Es gibt ja leider auch keine Krankenakten, in die man einfach hineinschauen kann. Aber das strotzende Selbstbewusstsein seines Freundes Martin Luther hatte Spalatin einfach nie. Und sein selbst für diese Zeit fast ausufernder Briefwechsel erzählt auch von einem Mann, dem Freundschaft und freundschaftlicher Austausch ein Lebensbedürfnis waren.
Zwischen dem jungen und dem älteren Spalatin scheint also irgendwie ein Riss zu klaffen wie auf dem Coverbild. Aber vielleicht ist der Riss gar nicht so groß. Denn bevor Spalatin in das für die Zeit eher abgelegene Altenburg ging, stand er ja von 1508 bis 1525 mittendrin in einem der wichtigsten politischen Zentren der Zeit. Friedrich der Weise war einer der mächtigsten Reichsfürsten – und gründete die Uni in Wittenberg ja auch deshalb, um es den anderen Reichsfürsten zeigen zu können. Von den vielen Investitionen in seine Residenzstädte Torgau und Wittenberg ganz zu schweigen. Und Spalatin war in seiner Position als Geheimsekretär ja so etwas wie der Kanzler oder erste Minister seines Fürsten. Wer mit Friedrich reden wollte, musste erst einmal an Georg Spalatin vorbei.
Als der Fürst 1525 starb, ging für seinen getreuesten Mitarbeiter auch eine Zeit zu Ende, die selbst heute noch so Manchem einen echten Burnout verschaffen würde. So gesehen war der – von Spalatin selbst gewollte – Weg nach Altenburg ein echter Bruch.
Aber gerade weil die beiden Autoren manchmal auch recht energisch gegen alte, wie festgewurzelte Behauptungen in Sachen Spalatin anschreiben, ist es ein lebendiges Buch geworden und eine sehr moderne Würdigung des Mannes, der eine Menge Energie auch darauf verwenden musste, den in Fahrt geratenen Luther zu bändigen. Der aber auch einer der Prüfsteine war, an denen Luther die nächsten Schritte seiner Lehre austestete und mit denen er sie diskutierte. Denn gegen die Entwicklung, die Luthers Lehrgebäude nach 1517 nahm, nehmen sich die 95 Thesen von der Wittenburger Schlosstür geradezu harmlos aus. Gerade die machtbesessene Sturheit der alten Kirchenhierarchie sorgte dafür, dass dieser selbst noch unsichere Theologieprofessor in Wittenberg über die zentralen Punkte seiner Kritik immer ernsthafter nachzudenken begann.
Nur einer merkte schnell, in welches Wespennest Luther da gestochen hatte, und das war Spalatin, sein “Freund und Schutz”, wie ihn die beiden Autoren nennen. Erinnert wird an diesen schüchternen Lutherfreund heute sowohl in Torgau als auch in Altenburg und Spalt. Und wer partout noch nichts von Spalatin gehört hat, der kann sich ja mit diesem Buch einlesen in ein ganz und gar nicht plakatives Schicksal aus der Luther-Welt.
Martin Burkert, Karl-Heinz Röhlin “Georg Spalatin. Luthers Freund und Schutz“, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2015, 14,90 Euro
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