Museum - das klang vor ein paar Jahren noch richtig alt. Oft sahen die Museen auch so aus, dröge, zum Weglaufen. Auch in Leipzig. Mittlerweile haben alle städtischen Museen eifrig an ihren Auftritten gefeilt. Man hat Ausstellungsgestalter einbezogen, bietet interaktive Extras und versucht, die ausgestellten Objekte "sprechen zu lassen". Oft wissen die Leipziger gar nicht, was für ein Schatz ein scheinbar ramponiertes Ausstellungsstück ist.

Und für den Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Dr. Volker Rodekamp war es sowieso schon immer der faszinierende Kern seiner Arbeit: “Kann man die Geschichte einer Stadt anhand von Dingen erzählen?”, fragt er im Vorwort zu diesem Buch, das quasi schon als Vorspiel erschienen ist für die große Ausstellung zum Leipziger Stadtjubiläum “1015. Leipzig von Anfang an”, die am 20. Mai eröffnet.

Sie wird die Leipziger Frühgeschichte auf ihre Weise erzählen – vor allem entlang der vielen Funde der Archäologen aus den letzten 25 Jahren. Für “100 x Leipzig” hat Rodekamp seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mal in den Fundus gescheucht. Sie sollten jene Ausstellungsstücke finden, die für sie ein Kapitel der Leipziger Geschichte erzählbar machen. Die Idee stammt ursprünglich aus England. Neil MacGregor, Direktor des British Museum, landete 2010 einen Knaller, als er das Buch “A history of the world in 100 objects” veröffentlichte. Das Buch liegt mittlerweile auch auf Deutsch vor und nimmt den Leser mit in die Weltgeschichte – und das an nur 100 ausgewählten Ausstellungsstücken.

Die Idee auch für Leipzig umzumünzen, das 2015 den 1.000 Jahrestag der Erwähnung durch Thietmar von Merseburg feiert, lag also gar nicht so fern. Dass es auch ein Davor gab, weiß man ja im Stadtmuseum. Davon kann Dr. Maike Günther schon im Kapitel 1 erzählen, wo sie slawische Keramikscherben erzählen lässt von der nachweisbaren dichten Besiedlung Leipzigs schon weit vor Bischof Eids dramatischem Tod 1015 in urbe Libzi, dem Burgward Leipzig, der eben nicht nur eine Burg war, wie manche heutigen Schnellleser daraus ableiten, sondern eine “Burg mit befestigtem Ort”. Und dieser befestigte Ort war augenscheinlich erstaunlich groß, deutlich größer, als Leipzigs legendärer Archäologe Herbert Küas noch Mitte des 20. Jahrhunderts annahm. Die jüngeren archäologischen Ausgrabungen im Rahmen des Stadtumbaus haben Vieles korrigiert, neue Daten und Strukturen zum Vorschein gebracht.

Fundstück Nr. 2 öffnet den Blick nicht nur auf die lange slawische, sondern auch heidnische Vorgeschichte Leipzigs. Ulrike Dura ist es, die hier anhand eines Thebalringes die lange und enge Nachbarschaft von Christentum und Heidentum in Sachsen beleuchtet und auch darauf hinweist, dass erst 1004 (also 11 Jahre vor Eids Tod in Leipzig) der Heilige Hain in Schkeitbar (heute ein Stadtteil Markranstädts) gefällt wurde. Anstifter dieser Fällaktion: der Bischof von Merseburg. In diesem Fall war es nicht Thietmar, sondern sein Vorgänger im Amt des Merseburger Bischofs, Wigbert. Was eine Menge mit Thietmars Chronik zu tun hat, die ja vor allem ein Versuch ist, die Belange des Bistums Merseburg zu verteidigen, das zwischen 981 und 1004 aufgehoben worden war. Die Niederlegung des Heiligen Hains in Schkeitbar war also eine der ersten Machtdemonstrationen des zum neuen Bischof eingesetzten Wigbert.

Aber die ausgewählten 100 Fundstücke erzählen meist noch ganz andere Geschichten. Zu manchen musste regelrecht geforscht werden, um sie einordnen zu können. Das ist auch beim Thebalring der Fall, der auch durch die Aufmerksamkeit eines Leipzigers in die Sammlung kam. Max Näbe hieß er. “Hobby-Archäologe”, nennt ihn Ulrike Dura, was aus heutiger Perspektive abwertend klingt. Aber an systematische Ausgrabungen war vor 100 Jahren, als Leipzig praktisch komplett umgebaut wurde, gar nicht zu denken. Bergeweise werden damals wichtige Fundstücke einfach entsorgt worden sein, weil bei den Bau- und Ausschachtungsarbeiten gar nicht drauf geachtet wurde. Da brauchte es gebildete Amateur-Historiker wie Näbe, der die Baustellen besuchte und mit den Bauleuten sprach. So rettete er auch einen Teil eines Brakteatenschatzes aus dem 12. Jahrhundert, dem Geschichte Nr. 3 gewidmet wird.

Da die Mitarbeiter des Stadtgeschichtlichen Museums tatsächlich ihre Lieblingsstücke aussuchen durften, entstehen eben auch keine trockenen Bilderklärungen zu den teilweise mit “magischem Effekt” inszenierten Aufnahmen von Bertram Kober. Es sind eher fröhliche Ausflüge in die mittlerweile recht umfangreichen Erkenntnisse zu vielen Leipziger Zeitschichten. Und es sind oft Dinge, die für gewöhnlich weder in der Ausstellung erzählt werden können noch im Ausstellungskatalog. Aber jede der 100 Geschichten zeigt, wie ein auf den ersten Blick unscheinbares Ausstellungsstück zum Beginn einer kleinen Forschungsreise wird.

Da werden einfach berühmte Markenschwerter gefälscht – und das mitten im Mittelalter! Der Leser staunt, dass Vieles, was wir heute für schändlich halten, auch zu Zeiten eines Wiprecht von Groitzsch getan wurde – denn welcher tapfere Recke wollte damals kein echtes Ulfberhtschwert besitzen? Und welcher reiche Händler wusch sich zur Zeit der Leipziger Stadgründung um 1165 seine Hände in der bronzenen Hanseschale?

Und wer kennt sich in der Bibel so gut aus, dass er die 800 Jahre alte Kirchentür von Wahren lesen kann?

Gerade weil die Autorinnen und Autoren sich manchmal fast unscheinbare Objekte wie getöpferte Kannen (aus Leipziger Produktion), die ersten Stadtsiegel, einen Schuh aus dem 15. Jahrhundert, Schreibgriffel, die Haare des ermordeten Diezmann, Zinnbecher oder Kinderspielzeug aus dem 15. Jahrhundert aussuchten, wird das ganze Leipziger Leben jenseits der großen Chroniken sichtbar, erfährt man von Gerbern, Töpfern, Zinngießern, Geldmachern, Buchdruckern, Henkern, der ganzen Vielschichtigkeit der Stadtgesellschaft über die Jahrhunderte. Denn in Leipzig hämmerte, feilschte, heiratete und trauerte man, musste man Krieger und Zeug vorhalten für die Kriege der Fürsten, wurde Mancher reich wie der reiche Scherl, konnten sich nur Wenige so prachtvolle Kachelöfen leisten, von denen eine Kachel als Fundstück Nr. 30 erzählt, oder einen 400 Jahre haltbaren Aktenschrank, wie ihn sich der Leipziger Rat 1592 zulegte.

Das Kapitel zum Ehering der Katharina von Bora. Foto: Ralf Julke
Foto: Ralf Julke

Die Geschichten sind alle chronologisch geordnet – der Leser und Betrachter macht also eine säuberlich geordnete Reise durch die Jahrhunderte, lernt die Ratsbibel von 1605 kennen und den Röhrwassserplan von 1693, erfährt, was eine echte Goldwaage ist. Und er darf mit Kerstin Sieblist zweifeln, ob Johann Sebastian Bach tatsächlich so aussah, wie er uns von Haussmanns Bach-Porträt (Nr. 47) anschaut oder in Seffners Schädelrekonstruktion von 1895 (Nr. 70) begegnet.

Natürlich wird so beiläufig auch die Lust der Zeitgenossen sichtbar, sich ihre Geschichte zu konstruieren. Wer besitzt nun eigentlich die richtige Dimitrof-Zellentür (Nr. 83)? Und steht im Leipziger Sportmuseum tatsächlich ein echtes Rennrad von Täve Schur (Nr. 88)?

Wie schnell Gegenwart zur Geschichte wird, zeigen die letzten Beiträge in diesem Bilderbuch: zum Schild “Nikolaikirche offen für alle” von 1986 oder Peter Eisenmanns Olympia-Modell für die Leipziger Bewerbung von 2002. Schwergewichtig liegt der Rollenmeißel der Tunnelbohrmaschine Leonie im Bild, ein wuchtiger Stiefel erzählt vom Wave Gotic Treffen 2009, und ein kleines Modell vom ersten elektrischen BMW, der seit 2013 produziert wird.

Geschichte ist eigentlich immer. Nur als Zeitgenosse wird einem das meist erst bewusst, wenn man die ersten Zeugnisse aus der eigenen Lebenszeit als befremdlich vergangen empfindet. Irgendwann war das simpler Alltag. Und nun liegt so ein Stück in der Vitrine und erzählt von eine Epoche, die tatsächlich so richtig vorbei ist, abgelegt und abgeheftet, eingeordnet und manchmal doch nicht verstanden. So erzählt der Band auch so nebenbei, wie Geschichte entsteht im ständigen Schaffen, Leben und Verändern der Bewohner einer Stadt. Entstanden ist so etwas wie ein Lesebuch – nur dass es nicht noch einmal die üblichen Versionen der großen Stadtgeschichte erzählt, sondern einzelne Objekte aus dem Schatten der Vitrine holt, hell anstrahlt und dabei ein mal kleineres, mal größeres Gewimmel aus dem jeweiligen historischen Kapitel beleuchtet. Jedes Stück eine kleine Einladung, das Leipzig des jeweils ausgewählten Jahrhunderts ein bisschen besser kennen zu lernen. Natürlich kann man’s auch als Einstimmung lesen auf die Ausstellung, die im Mai eröffnet.

Der Vorteil: Man kann sich hier zu Hause in aller Ruhe jedem Objekt einzeln widmen. Und beim nächsten Museumsbesuch kann man Ausschau halten, ob man das kleine Kunstwerk wiederfindet. Die Begegnung wird eine andere sein, weil man diesmal beim Begucken eine Menge mehr weiß als bisher.

Dr. Volker Rodekamp (Hrsg.) “100 x Leipzig. Tausend Jahre Geschichte, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2015, 19,95 Euro

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