Es ist Jubiläumsjahr. Mit großem Tamtam feiert Leipzig das 1.000. Jahr der Erwähnung durch Thietmar von Merseburg. Und es plauzen allerlei Bücher auf den Markt, die dran teilhaben wollen. Manche witzig, viele redundant. Manche leider auch viel zu schnell hingeschrieben.
Dieses leider auch. Obwohl der Buchverlag für die Frau mit “Leipzig für die Westentasche” schon einen vergleichbaren Titel im Mini-Programm hat. Dass man extra zum 1.000-Jährigen noch einen vorlegt, wäre eine witzige Idee gewesen. Stoff gibt es genug. Autoren, die im Stoff stehen, gibt es in Leipzig auch reichlich. Und mit Gunter Böhnkes “Mein Leipzig” hat der Verlag auch gezeigt, dass man über dieses kleine Weltnest durchaus beherzt und eigensinnig schreiben kann.
Aber dazu muss man sein Leipzig kennen. Seine Schrägen und Kanten, Abgründe und Verdrehtheiten. Seinen Größenwahn erst recht. Der wirkt oft genug skurril, funktioniert aber, wenn der nötige Schuss Ironie dabei ist. Ernst darf man ihn nicht wirklich nehmen. Und ebenso vorsichtig sollte man bei all den Dingen sein, die Leipziger gern mal über ihre Stadt erzählen, weil’s hübsche Anekdoten sind. Mit der Wirklichkeit muss das nicht viel zu tun haben. Auch wenn sich Stadtbilderklärer gern auf den Richard-Wagner-Platz stellen und den staunenden Gästen erklären: Hier ist der Ursprung von Leipzig, hier war der Eselmarkt, der erste Markt der Stadt an der Kreuzung von Via Regio und Via Imperii.
Manchmal sollte man wirklich die Worte “könnte, möglicherweise, mutmaßlich” usw. verwenden. Ein Großteil der berühmten Geschichte verliert sich im Dunkel. Und manche felsenfeste Behauptung war schon bei ihrer ersten schriftlichen Niederlegung nicht bewiesen.
Und das Schlimme ist: Der Prozess dieser Geschichtszurechtdeutung geht unvermindert weiter, erfasst längst auch Zeiten, die eigentlich gut dokumentiert sind, über die aber schon jetzt wieder Legenden durch die Lüfte wabern. Wie etwa über die Friedliche Revolution, über die schon Einiges erzählt wurde. Aber in diesem Büchlein ein echtes Novum: Die Leipziger Sechs werden jetzt zu den Helden des 9. Oktober, “die ganz vorn in der Masse von 70.000 mutigen Menschen marschierten”.
Es ist leider nicht die einzige Stelle im Büchlein, an der es wackelt. In der man spürt, dass es der Autor verdammt eilig und auch nicht die Zeit hatte, noch mal in die Lexika zu gucken. Gellert war nie Rektor der Uni, das Grassimuseum am Johannisplatz wurde nicht 1892 bis 1895 erbaut. Und das Kürzel LE steht nicht für Leipzig/Elster, aber dazu müsste man zumindest ein bisschen was über die Rolle der “DAZ” wissen. Und der Johannapark ist auch amtlicherseits kein Teil des Clara-Zetkin-Parks (mehr). Neu wäre auch ein Besuch von König August im “Coffebaum”. Der ließ sich seine Heiße Schokolade ins Königshaus bringen. Und ob er der Witwe Lehmann tatsächlich Avancen gemacht hat, ist wohl eher Legende.
Keine Legende ist es, dass die Leipziger Disputation eben nicht in jener Pleißenburg stattfand, die 1899 abgerissen wurde, um das Neue Rathaus an gleicher Stelle zu bauen.
Ich zumindest glaube, dass man sich auch für so ein kleines, hübsch gestaltetes Mini-Buch auf den Hosenboden setzen muss, Fakten prüfen, Zusammenhänge kennen und Sätze auch mal auf die Goldwaage legen. Gerade im Jubiläumsjahr, in dem eine Reihe emsiger Forscher gerade daran sitzen, eine große neue Stadtgeschichte zu schreiben. Es gibt schon viel zu viele Histörchen, die bei Leipzigern, aber auch bei manchen Autoren und Stadtbilderklärern im Schwange sind, die schlicht erfunden sind und trotzdem die Wahrnehmung der Stadt prägen. Die aus der Innensicht sowieso manchmal komisch aussieht, weil alle Nase lang ein neuer Marketing-Spezi auftaucht, der die Stadt zur “Boomtown”, zum “better Berlin”, zu “Hypezig” oder “Likezig” zu machen versucht. “Werkbank der Welt” oder “Mutter aller Messen” gehören eigentlich in die selbe Schublade.
Es ist die falsche Stadt, die hier bejubelt wird. Dabei braucht sie den Jubel nicht. Und hat auch nicht diese nach außen gekehrte PR-Seele, die derzeit das Marketing dominiert. Zu ihr passt viel mehr die liebevolle Skepsis, wie sie Gunter Böhnke und sein Kompagnon Bernd-Lutz Lange pflegen, wenn sie über ihre “zweite Liebe” sprechen, von echten Eingeborenen wie Dieter Zimmer oder Uwe Siemon-Netto gar nicht zu reden.
Kommt wieder runter, möchte man rufen, so hoch in den Gefilden der überdrehten PR leben die Meisten, die heutzutage das Leipziger Außenbild geben, wo sich Leipzig nur noch als eine Blase von lauter Highlights und Events und Rekorden präsentiert. Kann passieren, wenn man 25 Jahre lang das Falsche konsumiert. Da bleibt dann am Ende nur noch die Entziehungskur.
Holger Gemmer “Leipzig”, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2015, 5 Euro
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