Die Geschichtenwelt des sorbischen Autors Jurij Koch ist wie ein großer Steinbruch. Da kann man sich eine kleine Geschichte nach der anderen nehmen und eine Bildergeschichte draus machen. Das tut der Zeichner Thomas Leibe nun für den Lychatz Verlag schon seit geraumer Weile. Mit "Bauer Sauer und der Maulwurf Ulf" ging das los. Mit der Gans Helene wird's wohl nicht aufhören.

Im Grunde schreibt Jurij Koch ja aus einer bedrohten Welt. In DDR-Zeiten gehörte er zu jenen Schriftstellern, die die Bedrohung ihrer Heimat durch den Kohlebergbau thematisierten. Auch heute tauchen “Schurken, Lügner, Naturzerstörer” immer wieder in seinen Geschichten auf. Denn die Zerstörung der Lausitz geht ja weiter. Und die war mal eine beeindruckende Landschaft. Die Koch auch immer wieder beschrieben hat, auch auf der Suche nach seiner Kindheit.

Bei manchen seiner Geschichten weiß man nicht so recht: Hat er sie nun vor der großen Wende geschrieben oder danach? Scheint da die idealisierte Kindheit vor dem Krieg wieder durch oder ist es einfach eine große Liebeserklärung an die Menschen, die über Jahrzehnte auf ihren kleinen Bauernhöfen ein einfaches, noch eng mit der Landwirtschaft verbundenes Leben führten? Wo Gänse, Hühner, Hunde und Ziegen noch zum Alltag gehörten und die Tiere auch noch Namen hatten, nicht nur Ulf, der Maulwurf.

Auch Helene, die Hofgans, der es in dieser Geschichte einfach gut geht. So, wie es Tieren gehen sollte, wenn sie schon einmal von Menschen aufgezogen werden. Aber natürlich kann es passieren wie im berühmten Film über die Weihnachtsgans Auguste, dass ein paar Familienmitglieder es einfach nicht übers Herz bringen, das gefiederte Familienschnattertier einfach als Weihnachtsbraten herzugeben.

Was kann man da tun? Sicher ist das Federvieh nicht, der Vater freut sich ja geradezu darauf, das leckere Tier gebraten vor sich zu sehen. Und so muss denn der Junior versuchen, dem Tier die Flucht zu ermöglichen. Das ist die Stelle, an der man sich wirklich fragt: Hat Jurij Koch die Geschichte vielleicht schon seit 30 Jahren in der Schublade liegen? Quasi als kleines Märchen für das eingesperrte Leben in einer Welt, in der man durchaus das Gefühl haben durfte, für den Weihnachtsbraten gemästet zu werden? Da denkt man doch an Flucht in die Freiheit. Aber was passiert, wenn Gans Helene gar nicht will? Wenn sie das offene Gatter nicht juckt und auch der Flug der Wildgänse im Herbst sie nicht dazu animiert, nun einfach mal selbst die Flügel zu schwingen und abzuzwitschern nach Afrika?

Was tut man nicht alles, um so einer Gans das Flüchten beizubringen. Selbst ein berühmter Tierfilmer könnte helfen, wenn sich Helene nur helfen ließe. Aber vielleicht ist Helene gerade deshalb eine Gans. Sie denkt nicht dran, das gemütliche Heim, wo es immer ordentlich zu fressen gibt, zu verlassen.

Jurij Kochs Erzählungen sind immer kleine Parabeln, auch wenn sie wie launige kleine Geschichten aus dem Dorfleben in der hintersten Lausitz daher kommen. Denn man kann die einfältige Gans ja durchaus auch als heimische Nachbarin begreifen, eine eingeborene Sächsin durch und durch, die nicht die Bohne Lust hat auf die eigene Freiheit, diesen anstrengenden Versuch, da draußen jenseits des Gatters (und dem väterlichen Versprechen, zu Weihnachten verspeist zu werden) irgendwie die Dinge mutig in die eigene Regie zu nehmen. Freiheit ist ja immer ein Aufbruch in die Fremde. Und manchmal reicht es, wenn mal der Zirkus oder der Zauberer in die Stadt kommen. Braucht man denn mehr?

War das nicht 40 Jahre lang gut genug?

Man darf Mitgefühl haben mit dieser Gans. Und man darf sich ein bisschen fühlen wie Jurij Koch, der Rufer in der Lausitz, der innerlich wohl des öfteren am Gartenzaun steht und ruft: Helene, hau ab!

Das ist natürlich auch ein bisschen tragisch. Aber mit den liebevollen und witzigen Illustrationen von Thomas Leibe wird eine bunte und aufregende Sommerabenteuergeschichte daraus, ein bisschen so, wie die Abenteuer auf dem Dorf in Jurij Kochs Kindheit vielleicht mal waren und wie sie sich die Kinder, die heute noch zufällig mal im Dorf landen, wohl auch wünschen. Bevor sie größer werden und einfach wegfliegen. Weil ihnen eigentlich meistens keiner mehr sagen muss, dass sie in den Schmortopf der Traurigkeit kommen, wenn sie nicht Fliegen lernen. Rechtzeitig. Bevor Weihnachten ist.

Thomas Leibe, Jurij Koch “Helene hau ab!”, Lychatz Verlag, Leipzig 2015, 9,95 Euro

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