Tino Hemmann bleibt sich treu. Jahr für Jahr legt er neue Bücher vor. Mal Krimi, mal Thriller, mal Science-Fiction-Roman. Immer sind Kinder seine Helden, eigentlich immer nur Jungen. Sie schlüpfen bei ihm in die Rollen, die im großen Hollywood-Kino solche Typen wie Schwarzenegger oder Stallone spielen. Oder eben nicht spielen, weil die Schlagetots meistens mit beeindruckender Gefühlslosigkeit glänzen.
Das fällt zumeist nur nicht auf, weil sie im Film irgendwie immer die grimmigen Rächer der Guten sind. Aber wer sind eigentlich die Guten, wenn immer nur Gewalt die Lösung aller Dinge ist? Eine Frage, die bei Hemmann immer die Grundmelodie gibt. Und die Grundfrage: Wie weit dürfen Wissenschaftler, Politiker, Erwachsene eigentlich gehen? Wo verwandeln sich hehre Ideen in schreckliche Folgen? Wo verwandelt sich das gut Gemeinte in eine menschliche Katastrophe?
Das irrlichtert auch hinter Hemmanns neuer Geschichte, die er im Jahr 2136 handeln lässt, nach 120 Jahren Krieg, der irgendwie im Jahr 2016 losbrach, weil es die neuen Super- und Atommächte auf einmal alle nicht mehr aushielten und begannen, die anderen Muskelprotze mit Atombomben zu belegen – die Amerikaner, die Inder, Pakistanis, Israelis, Russen und Chinesen. Das Ergebnis ist augenscheinlich eine entvölkerte Welt, in der sich in Europa so etwas wie eine “Demokratie der Zehn” etabliert hat, die noch so etwas wie funktionierende Strukturen aufrecht erhält und seit 120 Jahren immer noch Krieg führt gegen ein dubioses Großkalifat im Süden. Und weil der Krieg die Männer verschlungen hat, werden schon die Kinder zu Soldaten ausgebildet. Oder besser: gezüchtet. Die meisten stammen direkt aus der Retortenfabrik.
Gäb es nicht immer wieder Nachrichten aus diversen Forschungslabors, dass einige Leute tatsächlich daran arbeiten, den perfekten Soldaten aus der Retorte zu erschaffen, dann würde man sich doch ein wenig hinterm Ohr kratzen: Woher nimmt dieser Hemmann nur all diese schrecklichen Ideen, die er in seinen Büchern immer bis zum meist sehr finsteren Ende spinnt?
Na ja. Diese schrecklichen Ideen kommen einem doch sehr vertraut vor. Sie wabern durch die Medien und es gibt Politiker zuhauf, die mit aller Blindheit daran arbeiten, sie auch in die Tat umsetzen zu können. Denn die Feinde …
Feinde.
Natürlich. Hemmann ist kein braver, angepasster Autor, der auch die “richtigen” Ansichten von der Welt kolportiert. Wahrscheinlich würde er aus den üblichen Hollywood-Blockbustern schreiend hinausrennen, weil er diese Verlogenheit nicht mehr aushält.
Man fängt bei ihm an, über diese inszenierte Verlogenheit nachzudenken. (Und man darf an dieser Stelle durchaus wieder Ray Bradburys “Fahrenheit 451” empfehlen. Das Buch ist so aktuell wie vor 60 Jahren.) Denn Feindbilder werden gemacht, meist dienen sie einer politischen Karriere oder einem bombensicheren Geschäft. Es gibt keine Kriege, an denen Europas und Amerikas Rüstungskonzerne nicht prächtig mitverdienen. Und es gibt keine Kampagnen – egal, ob gegen Russland, China oder diverse missliebige Regierungen im Nahen Osten oder in Südamerika – an denen nicht diverse halb private Think Tanks und Stiftungen ihren Anteil haben.
Dass er die Sache mit dem medial geschürten Groll gegen Russland anders sieht, hat Hemmann zuletzt in der Serie “Auf Wiedersehen, Bastard!” deutlich gemacht. Die Rolle des (in diesem Fall blinden) Jungen verändert die Perspektive. Auch weil Kinder bei ihm das Recht behalten, fühlen und mitfühlen zu dürfen. Auch mit den Anderen.
Eins der Kapitel in diesem neuen Hemmann-Roman hätte auch durchaus heißen können “Kinder an die Macht”. Auch wenn seine Kindersoldaten eine etwas andere Aufgabe bekommen: Sie sollen den Krieg beenden. Eigentlich eine Herkulesaufgabe. Die nur eine Chance hat, wenn die Jungen, die hier zu Helden werden, wieder vertrauen lernen und die ihnen anerzogene Verachtung füreinander überwinden. Denn die Grundlage für Hass und Gewalt ist immer die Verachtung und Abwertung des Anderen. Und Armeen funktionieren nur, wenn man jedes bisschen Empathie aus ihnen tilgt. Und ihnen Feind-Bilder gibt, die immer nur eine Lösung zulassen: die Auslöschung, die Vernichtung des “Feindes”, egal, ob es Frauen, Männer, Kinder sind.
Hemmanns Helden leben in einer gnadenlosen Welt. Doch sie lernen. Ihre Mission entpuppt sich bei allen schlimmen Exzessen auch als eine Wiederentdeckung einer verloren geglaubten Wirklichkeit. Die es wiederzugewinnen gilt – aber wie?
Das ist dann meist der Punkt, in dem sich auch Hemmann eine schnelle Lösung wünscht. Seine Geschichte wird zum Showdown. Das Gute muss – ja, muss auch bei ihm gewinnen. Und auf einmal wird der Gegner besiegbar, der sich am Ende gar nur als ein etwas altertümlicher Computer entpuppt. Technik allein hat noch nie eine Macht gerettet und auch keinen Sieg beschert. Wer Menschen nur noch zu fügsamen Sklaven macht (irgendwo in den Tiefen der Geschichte spürt man die Verwandschaft zu Samjatins “Wir” und zu Wells’ “Die Zeitmaschine”), der muss jederzeit damit rechnen, dass alles umstürzt. Ob es so schön und gründlich umstürzt wie in Hemmanns Finale, das ist leider immer die Frage. Keiner weiß es. Und dabei wurde das Böse ja nun schon so oft besiegt.
Und taucht trotzdem immer wieder auf, jederzeit bereit, den unpassenden Menschen passend zu machen, dienstbar einer blutigen Idee oder einer scheinbar guten Sache, die glaubt, das Recht für sich nehmen zu dürfen, jeden Widerspruch, jeden Feind mit Feuer und Schwert eliminieren zu dürfen. Es lodert also eigentlich die blutige Gegenwart durch diesen Roman aus einer blutigen Zukunft. Bei Hemmann zumindest immer verbunden mit der Hoffnung, wenigstens die Kinder würden uns den Hintern retten, wenn wir uns doch wieder verrannt haben.
So gesehen auch eine wiederholte Absage an die so gern beschworene Vernunft der Erwachsenen, von denen die meisten nur allzu bereit sind, jede Verbiegung mitzumachen, wenn’s von ihnen verlangt wird. “Und der Sache dient.”
Ansonsten ist diese Geschichte eher nichts für Kinder. Denn Hemmanns Phantasie ist schwarz. Richtig schwarz. Vielleicht hat er doch zu viele Blockbuster gesehen und ist nicht rechtzeitig schreiend rausgerannt.
Tino Hemmann “2136“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2015, 12 Euro
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