Leipzig war schon immer eine kosmopolitische Stadt. Daran darf man sich ruhig erinnern - auch in Lebenserinnerungen, wie jetzt Uwe Siemon-Netto eine geschrieben hat. Echte Erinnerungen eines echten Leipziger Griewatschs. Und zugleich eine Liebeserklärung an das alte, kulturvolle und bürgerliche Leipzig, das er auch dann in seiner Seele trug, als er als Reporter rund um den Globus unterwegs war.

Über eine andere Liebe – seine Liebe zu Vietnam – hat er im letzten  Jahr schon im Buch “Duc, der Deutsche” erzählt. In Südvietnam war er während der Zeit des Vietnamkrieges als Reporter unterwegs – und zwar nicht nur in den geschützten Quartieren Saigons, sondern auch in den umkämpften Gebieten. Dass er dabei bei seinen Lesern die Neugier wecken könnte, mehr zu erfahren über den Beginn seiner Karriere, war klar. Aber auch das Thema ging er ganz in alter Journalisten-Manier an – er erzählte die ersten Kapitel aus seiner Kindheit erst einmal im Springer-Blatt “Bild”, was nicht von ungefähr kam, denn für Springer war er viele Jahre als Korrespondent unterwegs, berichtete aus London und New York.

Aber wie man weiß, passt in “Bild”-Texte nicht allzu viel hinein. Und einer wie Siemon-Netto hat was zu erzählen. Er findet dafür sogar einen hübschen Vergleich, wenn er zwei Klassen von Leuten definiert – die einen haben ihr Leben tipptopp in Ordnung, können sich aber an fast nichts mehr aus der Kindheit erinnern. Und die anderen, die zwar keine Ordnung halten können in ihrem Zimmer, aber den Kopf voller Geschichten und Anekdoten aus der frühesten Jugend haben, die nur aufs Erzähltwerden warten. Und zwar richtig mit Details, Namen, Humor. Auch auf den ganz speziellen Leipziger Humor kommt er zu sprechen, der sich deutlich unterscheidet von allem, was etwa die Leute in Nord- und Süddeutschland unter Humor verstehen. Oder die im amerikanischen Westen, wenn man sie fragt, ob sie in den Bildern des Leipziger Malers Max Beckmann Humor entdecken können. Können sie in der Regel nicht. Weil sächsischer Humor in seiner zuweilen fatalistischen Schönheit im deutschsprachigen Raum eigentlich nur einen nahen Verwandten hat: Das ist der Berliner Humor, findet Siemon-Netto. Der in Beckmanns Bildern natürlich auch noch etwas anderes gefunden hat: Das abgrundtiefe Lachen aus den Finsternissen der Zeit, ein Lachen, wie er es in den Leipziger Bombennächten gefunden hat. Und das ihm wohl – genauso wie der urige Humor seiner Großmutter – geholfen hat, die Erlebnisse dieser Zeit zu verarbeiten. Irgendwie.

Geprägt hat ihn diese Jugend in einer Stadt, in der Humor auch noch derb sein konnte (lutherisch offenherzig wie bei seiner geliebten Großmutter) und die Streiche der Kinder noch richtige Streiche waren – mit entführten Straßenbahnen etwa. Dafür gab’s dann – von Oma – die entsprechenden Senge. Überhaupt scheint’s tüchtig gescheppert zu haben in Uwes Kindheit. Er nimmt’s auch im hohen Alter nicht krumm. Nur denen, die aus lauter Dummheit und Ignoranz geprügelt haben. Auch die gab es. Den Rohrstock, mit dem Uwes Vater, der blinde Staatsanwalt, anfangs noch seine Erziehung versuchte zu zelebrieren, hatte ihm die Oma abgenommen. Zeiten ändern sich. Achtzig Jahre – das scheint so wenig zu sein – dabei haben sich auch in unserer Gesellschaft ganze Kontinente verschoben, nicht nur in der Erziehung. Der Zeit der bekloppten “Badrioten” folgte ja bekanntlich die sowjetische Besetzung und die Zeit der Kommunisten, auf die Uwe Siemon-Netto bis heute einen Rochus hat. Das versteht man besser, wenn man seine Erinnerungen gelesen hat – an die Schulzeit nach 1945, als sich einige der neuen Lehrer und Funktionäre schon wieder genauso benahmen wie die Hundertprozentigen und Goldfasane in der Nazi-Zeit (und oft genug waren es genau die selben Typen – so flott gewendet, dass der ehrliche Bürger nur staunen konnte) oder die Arroganz der neuen Politiker, die nun frei Hand bestimmten, wer an die Thomasschule durfte und wer nicht. Ganz zu schweigen von den späteren Aufpassern, allen voran ein gewisser Herr Huste, die dem Reporter Sieman-Netto so richtig aufs Schwein gingen mit ihrer platten Weltsicht und der Verachtung für die “Burschwasie”.

Zwei Mal bescherte ihm die Aufpasserignoranz der Ostbürokratie ein Einreiseverbot für die DDR und damit auch für sein geliebtes Leipzig, das binnen weniger Jahre immer mehr heruntergewirtschaftet wirkte und zunehmend unter Rauch- und Ascheschwaden ergraute.

Zum Glück setzt der Autor keinen Schnitt an dem Tag, an dem er – von seiner Mutter organisiert – in den Westen ging, um überhaupt eine Chance auf ein gesundes und unabhängiges Leben zu haben. Da gibt es dann nicht nur eine mit Anekdoten gespickte Reise durch all die seltsamen Schulen und Heime, die er als Jugendlicher erlebte und wo er sich bestens zu behaupten wusste als tollkühner Leipziger Griewatsch. Die Bombennächte von Leipzig hatten ihm zwar ein deftiges Trauma beschert, das ihn bis zum 26. Lebensjahr begleitete. Aber sie hatten ihn nicht entmutigt. Im Gegenteil. Wenn er sich an etwas gern erinnert, dann an die lutherischen Gebete seiner Großmutter im Luftschutzkeller.

Hätte sich Siemon-Netto 30 Jahre früher an diese Biografie gesetzt, hätte es mit ziemlicher Sicherheit genauso ein heimlicher Bestseller werden können wie Dieter Zimmers “Für’n Groschen Brause”. Oder wie die Leipzig-Bücher von Erich Loest. Der kleine Unterschied: Siemon-Netto erzählt dann auch noch seinen recht abenteuerlichen Weg zum Journalismus. Das war noch in einer Zeit, als noch nicht die seltsame Welthaltung der Absolventen diverser Journalistenhochschulen die Landschaft prägte, sondern sich Journalisten noch als Handwerker verstanden, die jeden Tag ein ordentliches Stück Arbeit abliefern wollten, als auch noch eckige und kantige Typen in den Redaktionen anzutreffen waren, die die Leser nicht belehren, sondern informieren wollten. Auch in der tiefsten deutschen Provinz. Das war – so schreibt er – seine Schule für die Einsätze auch auf anderen Kontinenten.

Es ist die Neugier, die Geschichten macht. Was Siemon-Netto auch an seinen späteren Leipziger Geschichten deutlich werden lässt. Vor seinem zweiten Einreiseverbot hatte er durchaus registriert, dass da auf einigen Kanzeln im lutherischen Sachsen etwas Neues heranwuchs, einige Pfarrer begonnen hatten, die Schäfchen im Kirchenraum anders und lutherischer anzusprechen. Aus seiner Sicht eine Entwicklung, die zeitweilig wieder verschwand. Aber das wird ihn wohl täuschen, weil er ja nicht mehr einreisen durfte und nicht miterleben konnte, wie sich in den nächsten Jahren die Friedensbewegung der DDR so langsam entwickelte. Einreisen dürfen sollte er nie und nimmermehr, wie ihm sein Aufpasser Huste gedroht hatte. Das Nimmermehr reichte dann bis 1990. Was ja bekanntlich auch Leipzig rettete, dessen alte Bausubstanz straßenzugweise in die Brüche ging.

So ein kleines Zweifeln ist mit dabei, wenn Siemon-Netto über die Gegenwart schreibt. Immerhin vergleicht er das heutige Leipzig, dem ja ein wesentlicher Teil seines einst tragenden Bürgertums verloren gegangen ist, mit dem Leipzig seiner Kindheit, als auch seine Eltern ihm bürgerliches Leben und Denken vorlebten. Ist Leipzig wirklich wieder so kosmopolitisch und frankophil, wie es vor der Zeit der Nazis war? Oder geht da ein Riss durch die Stadt – wird eben die geliebte Paulinerkirche doch nicht wieder aufgebaut, dafür der einstmals ehrwürdige Augustusplatz in eine Art Disneyland verwandelt?

Manche Schnurre wirkt natürlich, wie für die “Bild” geschrieben. Aber das ist nicht schlimm, denn von diesem Humor und Erzählwitz ist das ganze Buch getragen. Selbst die Abschweifungen sind lauter Anekdoten und Schnurren, die durchaus auch die Streiche und Dummheiten des kleinen Griewatsch aus der Leipziger Südvorstadt sichtbar machen (obwohl Siemon-Netto betont, dass sein Elternhaus am Sophienplatz damals mit zum Zentrum gezählt wurde). Gerade weil er so flott von der Leber weg erzählt, kommt gar nicht erst die Distanz auf, die man sonst so bei schön geschriebenen Autobiografien bekommt. Man ist mittemang und immer mit dabei – auch in den harten und grauenvollen Stunden, in denen der Humor der Großmutter der wichtigste Halt war, dabei nicht zu verzweifeln.

Vielleicht bräuchte das heutige Leipzig auch wieder eine Fuhre von diesem grimmigen, lutherischen Humor, der sich eigentlich gut verträgt mit der kosmopolitischen Großschnäuzigkeit, die diese Stadt schon immer aushaltbar gemacht hat für alle, die einen freien Blick übers flache Land (zum Beispiel vom Scherbelberg) brauchen und einen weiten Horizont bevorzugen.

Zu “Leipzig liest” ist Uwe Siemon-Netto mit drei Veranstaltungen in Leipzig:

Am Donnerstag, 12. März, 11:30 Uhr im Literaturforum “buch aktuell” (Messe, Halle 3, Stand E401): “Griewatsch. Mein Leben. Mein Leipzig”.

Am Freitag, 13. März, 17:00 Uhr in der LVZ-Kantine (Peterssteinweg 19): “Griewatsch! Der Lümmel aus dem Leipziger Luftschutzkeller. Eine Vita”.

Am Freitag, 13. März, 19:00 Uhr im Centralkabarett (Blauer Salon, Markt 9): “Griewatsch. Mein Leben. Mein Leipzig.”

Uwe Siemon-Netto “Griewatsch! Der Lümmel aus dem Leipziger Luftschutzkeller. Eine Vita”, Fontis Verlag, Basel 2015, 19,99 Euro

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