China ist ein großes, fernes und noch immer weitgehend exotisches Land. So groß, dass schon das Auswählen schwerfällt: Was lohnt sich zu übersetzen? Was trifft auch den Nerv der deutschen Lyrikleser? Für den Übersetzer Wolfgang Kubin eigentlich kein Thema. Er hat schon manches Stück chinesischer Lyrik und Essay-Kunst ins Deutsche übersetzt. Der Doppelphoenix ist der dritte Gedichtband von Ouyang Jianghe, den er so ins Deutsche herübergeholt hat.

Vorausgegangen sind dem die Bände “Schnellimbiss” (2010) und “Glasfabrik” (2011). Die Titel verraten es schon: Ouyang Jianghe ist ein moderner Dichter, der sich auch das moderne China zum Malgrund genommen hat. 1956 in Luzhoou geboren, hat er sich schon vor 2000 einen Namen gemacht – vor allem als Schöpfer kurzer Gedichte, wie Wolfgang Kubin in seinem Nachwort schreibt. Dann sei er regelrecht verstummt und erst wieder nach 2010 mit neuen Langgedichten und dem “Doppelphönix” an die Öffentlichkeit zurückgekehrt.

Der Doppelphönix ist nicht nur ein oft verwendetes Symbol der chinesischen Kultur, sondern war auch der Titel einer Skulptur, die der Künstler Xu Bing für den Central Business District (CBD) in Peking schuf – aus zwölf Tonnen Altmaterial. Nur wollte man die Skulptur im CBD nicht haben – seitdem reist das eindrucksvolle Kunstwerk um die Welt und China hat – gewollt oder ungewollt – einen eindrucksvollen Botschafter seiner widersprüchlichen Gegenwart.

Ouyang Jianghe ist nun nicht das, was man so landläufig einen Dissidenten nennt, sondern ein Dichter sogar ganz im klassischen Sinn der westlichen Kultur, ein echter Kosmopolit – lebte von 1993 bis 1997 in den USA, auch mal ein halbes Jahr auf Schloss Solitude bei Stuttgart. Aber nicht nur so bereiste der Dichter die westliche Welt. Er hat sich auch mit allen großen Strömungen der Dichtung der Moderne beschäftigt. Deswegen wirkt es ein wenig skurril, wenn Wolfgang Kubin über einen Wettstreit mit chinesischen Dichterkollegen berichtet, in dem es um die Frage geht: Was ist nun ein Langgedicht und was nicht?

Möglich, dass das in China ein Definitions-Problem ist.

Aber Ouyang Jianghe gehört mit seinem “Doppelphönix” eindeutig in die Tradition des großen Poems des Westens – wenn man das überhaupt so verallgemeinert sagen kann. Kubin erwähnt ganz dezidiert T. S. Elliots “The Waste Land” als Vorbild. Aber man geht ganz bestimmt nicht falsch, wenn man auch an Walt Whitmann denkt oder gar lateinamerikanische Autoren wie Neruda und Cardenal. Die Problemstellung ist eine ganz ähnliche: Es ist der Versuch, eine aus allen Angeln berstende Welt zu beschreiben, in der nichts mehr lyrisch ist oder gar wohlgeordnet. Der junge US-Amerikaner Paul Henri Campbell hat mit seinen beiden im Leipziger fhl Verlag vorgelegten Bänden “Space Race” und “Am Ende der Zeiten” ganz ähnlichen Stoff bearbeitet – nur ist sein Thema der große, mehrfach geflickte Tanker USA und das Scheitern der “Pace Maker” an ihren eigenen Träumen.

In einer ganz ähnlichen Situation findet Ouyang Jianghe das heutige China. Kubin spricht sogar von einem “Höllentext”, auch wenn man dazu eine Menge Vorwissen um chinesische Weltsichten braucht, um die einzelnen Teile des Großgedichtes so zu interpretieren.

Kann man natürlich machen und landet auch irgendwie bei Dantes “Inferno”.

Nur dass die Personen, die Ouyang Jianghe in seinen Text gebannt hat, nicht in Höllenkreisen schmoren, sondern Zitate sind, die seinen Text mit den Werken anderer Dichter (in China und Europa) verbinden. Das geht mit Hölderlin und dessen Hymnen an eine heilere Welt los, berührt Ezra Pound, Heine, Yeats und sogar Karl Marx, Beethoven und Stravinsky. Chinesische Geschichte und Gegenwart spiegeln sich im Text – stark verfremdet, ins Bildhafte überhöht, oft genug auch aufgehoben in den Spielräumen der alten chinesischen Philosophen, die auf einmal auftauchen wie – ja – Phönix aus der Asche. Immerhin ist das 20. Jahrhundert ja eindeutig auch ein chinesischer Versuch gewesen, sich aus der eigenen Tradition herauszukatapultieren und in einem gewaltigen Spurt die Modernisierung des Westens nachzuholen. Mit den zu erwartenden Streifschäden an Kultur, Umwelt, Gesellschaft. Erfolgreich, wie man weiß. Und trotzdem voller Narben und den beginnenden Schichten zu Archäologie gewordener Entwicklung – wofür ja auch der Doppelphönix von Xu Bing steht.

Und bei Ouyang Jianghe geht das erstaunlich flüssig ineinander über. Manchmal reißt er sich die Brust auf wie einst Majakowski, dann wieder wird er atemlos wie Wyssotzki und selbst das von den Russen so gern verwendete Motiv des Jägers taucht bei ihm auf – freilich ganz klassisch gekehrt in die eigene Konfrontation: “Aber im Korn des Gewehres, / wird der Jäger sich ändern, immer mehr seiner Beute gleichen.”

Das ist die andere Seite der chinesischen Weltsicht, die im Westen zumeist als freundliches Lächeln interpretiert wird: Nicht nur Ouyang Jianghe denkt – geschult in der klassischen Philosophie – so selbstreflektierend. Ein riesiges Land im Aufbruch erkennt sich auch in den Vorbildern wieder: jagend und gejagt. Und so taucht denn auch ein Wort in diesen Texten auf, das selbst gejagtes Wild und Jäger ist: das Kapital. Und mit der (chinesischen) Revolution hat es eines gemeinsam: die erlebte Heimatlosigkeit.

“Die Revolution und das Kapital, / wer von ihnen verspürt mehr Heimweh?”

Je weiter Ouyang Jianghe in seinem Großgedicht fortschreitet, umso konkreter werden die Bilder und Szenen, umso genauer benennt er die verwirrende Gegenwart seines Landes: “Kinder sprechen Englisch nach kantonesischer Art. / Ihre Lehrer korrigieren sie nach dem Tonfall,/ den sie heruntergeladen haben.”

Die chinesischen Texte stehen gleich neben der deutschen Übersetzung. Man ist zuweilen versucht, in den chinesischen Schriftzeichen nach Markennamen und Symbolen der modernen Marketingwelt zu suchen. Irgendwie ist die riesige Skulptur von Xu Bing auch ein aus lauter Einzelteilen montiertes Bild für das moderne China mit seiner Technisierung, seinen Träumen und seiner Zerrissenheit. Denn während die montierte Gegenwart versucht, die Himmel zu erstürmen, leben die Menschen “in Streichholzschachteln”, “schauen täglich fünf Minuten Nachrichten aus aller Welt” und wohnen dennoch “im Altertum”.

“Der Doppelphönix fliegt, ohne zu fliegen.”

Was den Dichter nicht davon abhält, dennoch abzuheben und aus der Vogelperspektive auf “Häuser, Straßen, Häfen, / Fußballplätze und Gärten” zu schauen, das ganze gedoppelte China, “Zerstörung und Aufbau” in einem.

Dieselbe Arbeitsmethode, die er im “Doppelphoenix” anwendet, findet sich auch in den anderen seit 2012 entstandenen Langgedichten, die Ouyang Jianghe auf Wunsch von Wolfgang Kubin für diesen Band ausgewählt hat. Stets präsent ist dabei die Wanderung des Dichters zwischen den Welten – der europäischen Poesie und der chinesischen – dem asiatischen Versuch, im Einklang mit den Dingen zu leben, und der europäischen Losgelöstheit des Individuums, eine Erfahrung, die durchaus auch als Verstörung und Bewusstwerdung erlebt werden kann.

Und die vom Kapital getriebene Gegenwart wird dabei durchaus auch als ein beklemmender Ort empfunden, ein trauriger Ort, in dem gerade die Gedichte von Yeats oder die billigen Stumpen, die Karl Marx einst rauchte, zu einer Art Trost werden. Und immer wieder – auch in “Der Leopard des Herrn Huang” – das Bild, das ihn wie kein anderes beschäftigt: “Manch einer jagt sein Leben hinter etwas her. / Manch einer wird das, was er jagt. / Und ich werde ein Leben lang von Leoparden gejagt. / Das ängstliche Reh in mir,/ wird es ein Leopard …”

Und dabei vergisst er nie, dass es auch etwas zu verlieren gilt, wenn man immer nur den Mustern des Westens folgt (“Das große Recht, das große Unrecht”): “Das Kapital trägt Jeans, so attraktiv wie die Revolution. / Eine Horde in die Jahre gekommener Hippies / tanzt nackt im Hyde Park. Sie halten Selbstlosigkeit / für die Zukunft des Künftigen …”

Nur: Wohin geht die Reise? Nicht wirklich an einen heimeligen Ort: “Das Kapital hat seine Freude am Einkauf des eigenen Untergangs, / seine Freude an der Verkündung der Logik vom Sieger als Verlierer, / umsonst für Jedermann.”

Manchmal muss man wirklich nur den Kulturkreis wechseln und sieht, dass die angepriesenen Paradiese schon längst keine Paradiese mehr sind.

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Tipp: Ouyang Jianghe und Wolfgang Kubin stellen den “Doppelphönix” auch im Programm von “Leipzig liest” vor: Freitag, 13. März, um 19 Uhr im Restaurant “Telegraph” (Dittrichring 18 – 20).

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