"Land im Wartezustand" hat der Kulturhistoriker Bernd Lindner sein Nachwort zu diesem Bildband überschrieben. Das hätte auch vorn so auf dem Titel stehen können. Tatsächlich trifft es das, was der Leipziger Fotograf Gerhard Gäbler zwischen 1978 und 1990 abgelichtet hat, noch viel klarer. Denn er hat ja eigentlich nicht das Land fotografiert, sondern dessen Bewohner. All diese blassen Seelen in Erwartung von Irgendwas.
Und es stimmt ja, was Lindner aus den Fotos herausliest: Irgendwann um 1980 hat die DDR einfach auf Wartemodus geschaltet, hat sich die Staats- und Parteiführung eingegraben und das ganze Land versank in einer Art Winterstarre. Mumifizierte geradezu. Als hätte Willi Schwabe in der Rumpelkammer einfach das Licht ausgemacht. Klick. Keine Diskussionen mehr. Nur noch das Knabbern der Mäuse hinter der Wand.
Gerhard Gäbler hat bei seinen Streifzügen mit der Kamera reihenweise solche Wartezustände abgelichtet. Aber nicht nur. Denn tatsächlich ging das Leben ja weiter. Die Bewohner des auf Ruhemodus gestellten Landes wurden ja nicht wirklich in Schockstarre versetzt. Sie arbeiteten weiter ihre rußigen Schichten in heruntergewirtschafteten Fabriken ab, reparierten ihre Autos – und zwar selbst, gründeten Familien (und konnten sie sogar als Heizer ernähren), versuchten ihre Wohnungen zu eigenen Lebenswelten auszustaffieren, feierten Fasching oder hochprozentigen Männertag, gingen Schwimmen oder zum Pferderennen oder wagten sich – wie zwei Jugendliche im Jahr 1988 – mutig mit dem Fahrrad bis an die Absperrung am Brandenburger Tor.
Manchmal ist es wirklich die Motivwahl des Fotografen, die den Blick verändert. Wobei auch auf Gäbler zutrifft, was seine Berufskollegen der sozialkritischen Fotografie der DDR ebenfalls auszeichnet: Er hat mit genauem Blick die Bruchstellen, Schattenseiten und Widersprüche seiner Zeit erfasst. Schwerpunktmäßig natürlich im Leipziger Osten, wo er lebte und arbeitete und wo er die einfachen Leute begleitete in ihrem Alltag – den Kindern zusah beim Spiel in den Hinterhöfen, den Erwachsenen beim Einkauf, den Jugendlichen beim Pflegen ihrer extravaganten Frisuren. Oft genug Gesichter, die bei ihm auch in den Bildern von 1990 wieder auftauchen – in seliger Erwartung am Rand der CDU-Wahlveranstaltungen. Oja, blühende Landschaften wurden ihnen versprochen.
Bekommen haben sie oft genug: das Warten.
Lindner stellt mit Recht fest, dass dieses geduldige Warten durchaus eine Lebenshaltung war. Vielleicht eine antrainierte, vielleicht eine anerzogene. Aber die Grundhaltung ist immer dieselbe: die Delegierung der eigenen Wünsche und Hoffnung auf andere, “die da oben”, denen man ja bei diversen Wahlen einen Blankoscheck ausgestellt hat: Nun macht mal. Wir warten.
In Gäblers Bildern tauchen zwar auch die Vorgänge vom Herbst 1989 auf, dieser berauschende Herbst mit dem Wunder der gemeinsamen Empörung. Da schien sich ja für zwei, drei Monate tatsächlich ein ganzes Land zu berappeln, aufzustehen und Änderungen nicht nur zu fordern, sondern auch zu erzwingen.
Doch diese Bilderstrecke, die Gäbler schon in anderen Publikationen in ganzer Breite veröffentlicht hat, ist diesmal nur kurz gehalten. Fehlen sollte sie nicht. Diese Bilder haben Gäbler erst richtig berühmt gemacht. Aber nicht nur Lindner fällt auf, dass dieser Herbst eine seltsame Zäsur ist. Als hätten all die, die im Herbst noch so empört waren, nach dem 9. November schnell wieder zurückgeschaltet. “Die geteilte Zeit” hieß der Begleitband zur Ausstellung mit Fotos von Gerhard Gäbler 2009 im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig. Der Herbst ’89 als Teiler, der wie ein sauberer Strich eine beklemmende Zeit davor von einer bestürzenden Zeit danach trennt. Einer Zeit, in der das selige Erwarten der blühenden Landschaften für die meisten dieser so Zuversichtlichen in die Abwicklung ihrer Betriebe und Arbeitsplätze mündete.
Aber sie hatten ja nicht nur das Warten gelernt. Sie hatten auch gelernt zu improvisieren und aus dem Vorhandenen das Beste zu machen. Unter welch primitiven Umständen da im letzten Jahrzehnt der DDR gearbeitet wurde, hat Gäbler mehrfach abgebildet. Es sind echte Kontrastfotos zu den offiziellen Inszenierungen des “stolzen Arbeiters”. Müllmänner, Bierfahrer, Straßenflicker tauchen bei ihm auf. Man schaut mit Gäbler in die oft kärglichen Wohnungen der Menschen, trifft sie am Kiosk, wo die begehrte Bückware wohl wiedermal ausverkauft ist, trifft sie beim Gassigehen oder bereit zum Sonntagsausflug mit dem Motorroller. Zwischendurch immer – wie kleine sarkastische Kommentare – Fotos von mit Propaganda geschmückten Schaufenstern mit gar keinem oder geradezu kärglichem Warenangebot.
Tatsächlich gibt es keinen Bruch zwischen den Bildern vor und nach dem Herbst ’89. Die Mehrheit der zuvor Unzufriedenen war glücklich mit der neuen Reise- und Einkaufsfreiheit. Man würde künftig auf anderen Stühlen sitzen und den Feierabend verwarten. Neue Generationen von Jugendlichen würden neue Moden und Macken finden, um sich abzusetzen von den Alten. Und auf den vielen leeren Brachen der Stadt würden binnen kürzester Zeit Märkte für gebrauchte Autos sprießen. Fast symbolisch wirkt das letzte Foto im Buch, das einen Wartburg-Fahrer zeigt, der gerade einen schweren Unfall gebaut hat: Das Auto, auf das man eben noch Jahrzehnte lang warten musste, ist Schrott. Der Mann schnappt sich Jacke und Ledertasche und geht einfach davon. Was eben noch Wert hatte, zählt jetzt nicht mehr. Dafür gibt’s Beate-Uhse-Kataloge auf dem Markt gratis und die Leute stehen wieder Schlange.
Das Warten hatte ein Ende? Wer’s glaubte, wurde nicht selig, sondern lernte jetzt Warten mit neuer Geduld. So dass der Buchtitel sich eigentlich selbst hinterfragt: Dass diese DDR so nicht wiederkommt, das ist sicher. Aber wie ist es mit der Zeit? Kann es sein, dass sie nur ihre Masken und Kostüme wandelt, ihre Gerüche und Aromen? Und trotzdem immer wieder ganz ähnliche Schleifen dreht zwischen Hoffnung, gläubiger Erwartung, geduldiger Enttäuschung und dem Wunsch, das Warten möge mal ein Ende haben?
Hat Gäbler da ein besonders warte-trainiertes Völkchen fotografiert in seinem Leipzig? Und das Ganze ist gar nicht so wehmütg, wie es in der Rückschau aussieht? – Die Stadt selbst hat sich radikal verändert. Das bekommt jeder mit, der versucht, die Straßenbilder der 1980er Jahre mit den heutigen abzugleichen. Da ist eine Menge passiert.
Manche von Gäblers Bildern – gerade die vom Herbst 1989 – sind längst Ikonen geworden. Manche wirken noch aus 25 Jahren Entfernung verstörend und gleichzeitig erhellend. So wie Gäblers Bilder vom 11. November 1989 und den drängenden Menschenmengen an den Grenzübergängen zu Westberlin. So stur kann ein Volk sein, wenn es endlich mal an die freie Luft will.
Tatsächlich dürfte es ein Leichtes sein, mit Gäblers Fotos auch einen Bildband über die 1990er Jahre zu machen. Genau unter dem gleichen Titel: “Zeit ohne Wiederkehr”. Vielleicht sind wir Menschen einfach so: werfen die Vergangenheiten ab wie abgetragene Kleidung und schauen dann nach ein, zwei Jahrzehnten zurück und wundern uns, wie sich die Welt gedreht hat. Und wie wenig sich – wenn man es von Nahem betrachtet – tatsächlich verändert hat mit uns.
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