Leipzig steckt mitten drin im Jahr seiner 1.000-jährigen Erwähnung in der Chronik des Thietmar von Merseburg. Und es mehren sich nun die Publikationen, die sich mit dem Großen und Ganzen und Bunten beschäftigen. Dazu gehört auch dieses gar nicht so dünne Lesebuch, in dem die drei Autoren versuchen, das Weltnest mit all seinen Zuschreibungen in 14 Kapiteln auf den Punkt zu bringen. Was schlicht unmöglich ist.

Sie hatten auch vorher bei den Bloggern von Weltnest angefragt, ob sie den Titel so verwenden dürfen, betonen Franziska Reif, Tobias Prüwer und Tim Tepper im Vorwort. Ist den Bloggern natürlich nur recht. Ist ja nicht von ihnen erfunden worden, sondern von Peter Gosse, Lyriker und Haderer mit dieser irrlichternden Position, die Leipzig nun mal einnimmt – nicht so klein, dass es mit einem Begriff zu fassen wäre, nicht groß genug, um größere Nester wie Berlin wirklich herauszufordern. Mittendrin und manchmal eben doch nicht dabei – bei Olympia zum Beispiel 2012. Was der Stadt, wenn man es recht betrachtet, gar nicht geschadet hat. Das ist nicht die Spielwiese dieser titelreichen Stadt, zu denen auch die Sportstadt gehört, in diesem Buch fast zum Schluss zwischen Heldenstadt und Wissensstadt abgehandelt (Letzteres klingt natürlich ungewohnt – selbst das Stadtmarketing spricht da lieber von der Stadt der Wissenschaften oder gleich von der Universitätsstadt).

An anderen Begriffen reiben sich die Geister bis heute: Buchstadt, Musikstadt, Boomtown, Messestadt. Jeder Begriff natürlich ein Kapitel wert. Jedes Kapitel mit drei bis dreizehn Einzelkapitelchen untersetzt. Man merkt: Die Autoren kommen aus dem Journalismus und sind es auch gewohnt, sich knapp zu halten. Sie stammen aus dem Umfeld des “Kreuzer”, das betonen sie auch. Und das merkt man auch am Stil, der ein bisschen frech ist, da und dort ganz der etwas schnodderige “Kreuzer”-Ton. Aber das Stadtmagazin, dermaleinst als Literaturbeilage der “DAZ” gestartet, hätte nicht 24 Jahre überlebt, wenn dieser schnodderige Ton nicht auch ein Ur-Leipziger gewesen wäre. Einer von vielen. Und nicht der unsympathischste.

Wer freilich die Stichworte “Kreuzer” und “DAZ” in einem Kapitel zur Medienstadt sucht, sucht die Medienstadt vergeblich. Da haben die drei Autoren augenscheinlich die selbe Sichtweise wie unsereins: Es gibt keine Medienstadt Leipzig. Die Chance wurde verpasst. Sie haben die verbliebenen (und einstmals berühmten) Medien in das Kapitel Kulturstadt gesteckt: “Blätterwald und bunte Bilder”. Wo es sowieso höchst kritisch zugeht. Da werden Kirchen gesprengt, Architektursünden angeprangert und MDR-Krimis in der Luft zerfetzt.

Die drei beziehen Position. Und haben noch die kühne Titel-Unterzeile “Das Buch der nächsten 1.000 Jahre” gewählt. Was eine dieser kleinen Provokationen ist, die sie reichlich und absichtlich setzen. Manchmal auch nur der Pointe wegen.

Tatsache ist: Es ist ein Buch für den Tag. Und über den Tag, der in Leipzig immer ein durchwachsener, widersprüchlicher ist. Was mit diesem “Weltnest” zu tun hat, das in der Variante von Peter Gosse ja nur viele, viele ähnliche Bezeichnungen aus den vergangenen 300 Jahren variiert. Darum geht’s gleich kunterbunt im ersten Kapitel: Aliasstadt. Hier haderten schon Lessing und Goethe. Hier tauchen auch die beiden Synonyme auf, bei denen die lyrischen Romantiker ihre Schnappatmung bekommen: Lindenstadt und Löwenstadt. Nebst Pleiß-Athen und Klein-Paris. Es fällt auf: Die Leipziger wollten immer schon gern was Anderes sein als sie selbst. Provinz und Größenwahn geben sich hier die Hand. Für manche Leute ist das nicht auszuhalten, die wollen nix als weg – wie Ringelnatz. Für Andere ist es die einzige aushaltbare Mischung. Und für die dritte Spezies ist es ein stetiger Grund zum kreativen Hadern. Für den Dichter Georg Maurer etwa, den die drei in ihrem Buch gern und oft zitieren.

Quasi als besinnliche Erdung – gern am Ende von etwas bissigeren Texten, in denen sie sich über manches Leipziger Bohei aufregen. Ganz gegenwärtig. Die Texte hätten auch so fast alle in den verbliebenen Leipziger Zeitschriften und Magazinen erscheinen können. Im “Kreuzer” zum Beispiel. Als Glosse zum Tag. Ausnahmen gibt es natürlich auch, die davon erzählen, dass die drei sich so ganz eins nicht waren, wohin sie eigentlich wollten: Vielleicht doch wieder so ein Lesebuch für Leute, die Leipzig noch nicht kennen? Davon zeugen die Kapitel, die vom Auwald erzählen, von Flora und Fauna, Ausflugstipps geben oder Empfehlungen fürs Nachtleben.

Oder vielleicht doch ein etwas anderes Lesebuch zur meist sehr dissonanten Gegenwart, die sich in Leipzig gern als Inszenierung zeigt: Olympiabewerbung, Lichtfest, Leipziger Freiheit, Kultur(haupt)stadt, ein regelrechtes Baden in Superlativen. Nicht zu vergessen die eitle Tändelei jüngst mit der “kleinsten U-Bahn der Welt”. Die ganzen kleinen Scherzchen aus schlechten Kommentaren, Feuilletons und PR-Aktionen – sie tauchen wieder auf. Journalisten sind manchmal wie Schwämme: Sie saugen alles auf, auch den durchwachsenen Unsinn. Wie die zuweilen monatelang geschaukelten Kampagnen um Hypezig (das leider im Buch noch öfter auftaucht als der sinnfreie Vergleich mit Berlin, den die drei eigentlich vermeiden wollten).

Oder sollte es doch ein etwas anderes Lesebuch zur Leipziger Geschichte werden? Ein bisschen feuilletonistischer erzählt als die zu erwartenden wissenschaftlichen Prachtbände?

Oder doch eher ein literarischer Stadt(ver)führer, von denen es aus dem Forum Verlag mal zwei hübsche gab – “Leipzig zu Fuß” und “Leipziger Allerlei, Allerlei Leipzig”. Was sich ja immer anbietet. So feindlich die Leipziger Luft für die lebendigen Dichter immer war: sie haben trotzdem drüber geschrieben und sich ihre Plätzchen und Fleckchen zum Überleben gesucht. Manchmal war’s eben eine Bank im Rosental wie bei Georg Maurer.

Natürlich wird auch der Mythos Buchstadt seziert, genau so wie der der Musikstadt und der der Bürgerstadt. Da und dort mit sichtlicher Lust, die öffentlichen Behauptungen zu hinterfragen, mit denen Politiker und andere PR-Dilettanten die Geschichte aufpolieren und so Manches vergülden, was bei näherer Betrachtung keinen Pfennig wert ist.

Und man liest die Verbissenheit mit. Denn wer das alles seit Jahren schon immer wieder versucht hat, weiß: Gegen die Legenden kommt die Wahrheit nicht an. Die alten Kamellen werden von den selben Leuten immer wieder hervorgekramt. Egal, wie süß und eklig die sind. Sie ignorieren einfach die Fakten und trällern weiter. Was auch mit der Nicht-Existenz der Medienstadt zu tun hat. Eine Stadt, die ihre Medien nicht wahrnimmt (oder sich das gefallen lässt, was die regionalen Sender draus machen), hat keine Medien. Die lebt quasi in besoffener Unwissenheit. Worin sich ja Leipzig bekanntlich in Nichts von Dresden, der Stadt der ahnungslosen Spaziergänger, unterscheidet.

Das Buch ist also quasi vier Bücher in einem. Was auch daran liegt, dass sich die drei Autoren an Stoff regelrecht vollgestopft haben. Das musste wohl alles irgendwie mal raus. Und ließ die schöne Anfangsidee, Leipzig einfach mal anhand seiner Verkaufs-Label zu erzählen, schier ins Uferlose wachsen. Man hat quasi das endgültige/vorläufige  Buch geschrieben zu einer Diskussion, die vor zehn Jahren die klein diskutante Stadtgesellschaft zum Kochen brachte, als man OBM und Tourismusvermarktung vorwarf, vor lauter unterschiedlichen Zuschreibungen nicht mehr zu wissen, womit man Leipzig eigentlich bewerben müsste.

Bekanntlich gab es dann den OBM-Beschluss, sich einfach nur um die Musikstadt zu kümmern. Das wäre deutlich genug.

Und nun dieses Buch, das feststellt, dass alle diese anderen Städte in dieser Stadt trotzdem weiter existieren. “Die ganze Welt im Kleinen” oder die “Welt in einer Nuss”, wie zwei andere alte Formeln lauten, die Messe-Handels-Pelz-und-Bürger-Stadt irgendwie auf eine handliche Formel zu bringen. Samt dem Gefühl, dass man zwar an einem Ort lebt, der geradezu brodelt, wenn die Welt (zu den Messen) zu Gast ist, aber oft genug nicht das Brot zum Leben abwirft. Stichwort: Armutshauptstadt, ein Titel, den Leipzig abgeben durfte an Dortmund, ohne dass sich am Bodensatz der niedrigen Einkommen irgendetwas geändert hätte.

Was dem 360-Seiten-Rundumschlag am Ende fehlt, ist das, was anderen Büchern zu diesem unübersichtlichen Thema Leipzig oft genug ebenfalls fehlt: ein Personen- und Stichwortverzeichnis. Das kann durch die vielen neckischen Querverweise im Text, die einem das Vor- und Zurückblättern zu anderen Kapiteln nahe legen, nicht ersetzt werden. Auch wenn sie natürlich deutlich machen, wie sehr den drei Autoren bewusst war, dass in Leipzig fast Alles mit fast Allem irgendwie zusammenhängt und die Sphären hier (zum Glück) nicht streng geteilt sind. Was nicht heißt, dass man auch überall zu Hause sein muss. Das machen auch die drei immer wieder gern deutlich, wenn sie mal wieder einen spöttischen Beitrag über eine der üblichen Leipziger Engstirnigkeiten zwischenschieben.

Am Ende ist es zum Glück kein oberflächlicher Hosianna-Band zum 1.000-jährigen geworden. Eher eine argwöhnische Schau der aktuell gebräuchlichen Versatzstücke, aus denen der bunte Kahn Leipzig irgendwie zusammengebaut ist. Eine seltene Mischung, das wird jeder zugeben, allein schon, wenn er die ganze Zutatenliste liest: Sellerie, Bärlauch, Morcheln, Waschbären, Raben, Löwen, Petroleum, schon wieder Löwen, Kochsalz, Koriander, Linden, Kohle, Gänsefleisch …

Das erfordert schon einen gewissen starken Magen, um das zu verdauen. Vielleicht ist mit Leipziger Allerlei ja doch etwas anderes gemeint als das, was man in der Spargelsaison in Auerbachs Keller bekommt.

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