Der Buchtitel ist voller Assoziationen. Eigentlich stammt er aus der Bibel. Aber spätestens an der Stelle, an der der Herausgeber dieser Buchreihe im Lehmstedt Verlag, Mathias Bertram, daran erinnert, dass es Ulrich Plenzdorf war, der die Bibelstelle für ein Lied im Vorspann seines Films "Paul und Paula" aufgriff, öffnet sich so etwas wie ein Vorhang, ein Stück Welt- und Zeitgefühl. Man glaubt es kaum: Die DDR war ein biblisches Land.
Das lag natürlich nicht an den Funktionären und ihrer Art Kultur- und Weltverständnis, nicht an Parteitagslyrik, Jugendweihe und sozialistischem Wettbewerb. Aber wer all die anderen Schwarz-Weiß-Bildbände der faszinierenden Fotografen der DDR, die bislang schon im Lehmstedt Verlag erschienen sind, durchgeblättert hat, dem ist dieses Gefühl nicht fremd: das Gefühl, dass das Eigentliche nicht in den pompösen Inszenierungen von Parteien und Staatsmacht zu finden ist, dass all der quasi-sozialistische Glanz nie mehr war als eine Bemalung, die in den 1970er Jahren ihren Glanz verlor – und trotzdem den Anspruch bestimmte, den die wichtigsten Künstler des Landes an die Gesellschaft stellten.
Deswegen ist auch “Paul und Paula” so markant, das 1973 in die Kinos kam. Das war die Zeit, da ein ganzes Land vom neuen Parteichef Honecker tatsächlich so etwas wie eine “Wende” erwartete. Vielleicht nicht gerade ein 1968 in der DDR – das traute dem trockenen Ex-FDJler nun wirklich niemand zu – aber eine deutliche Öffnung der gesellschaftlichen Diskussion. Reihenweise gingen Künstler aller Gattungen mit Werken an die Öffentlichkeit, die genau diese Hoffnung nährten. Dazu gehörten Rockbands und Sängerinnen, Schriftsteller und Maler, Theater- und Filmregisseure.
Und es erstaunt schon, dass es noch kein opulentes Buch über diesen kurzen, doch in der Kunst so nachhaltigen Frühling der DDR gibt, der 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki einen letzten Höhepunkt fand und mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 praktisch endete. Auch wenn einige Künstler trotz zunehmender Schikanen, Auftritts- und Veröffentlichungsverboten dennoch weitermachten. Doch viele, die mit der wieder zunehmenden Gängelei nicht mehr zurechtkamen, gingen damals in den Westen – auch die beiden Hauptdarsteller von Paul und Paula, Angelica Domröse und Winfried Glatzeder.
Auch dieser Effekt wird in der Diskussion über die DDR meist ausgeblendet: Wie sehr dieses Land damals auch seelisch ausblutete. Die Künstler, die da weggingen, waren ja nicht irgendwelche. Sie waren die sensibelsten, die auch den Schmerz dieses Landes am besten getroffen hatten. Und dieser Schmerz war elementar.
Und in den Schwarz-Weiß-Fotografien jener Fotografen, die in der von Bertram betreuten Reihe erscheinen, ist dieses elementare Lebensgefühl zu sehen. Jüngst hat es der Lehmstedt Verlag in den beiden opulenten Bildbänden “Das pure Leben” mit Fotografien aus 40 Jahren DDR noch einmal konzentriert gezeigt. Dort waren auch einige der Fotografien von Norbert Vogel zu sehen, die jetzt in diesem Band wieder auftauchen – nun natürlich neu einsortiert. Aber schon die Titelnähe zeigt, wie sehr sich die Motivwelten und Sichtweisen der Fotografen aus Berlin und Leipzig berührten, wie genau sie dem auf der Spur waren, was die eigentlichen Lebenszustände in der DDR und das Alltagsgefühl der porträtierten Menschen ausmachte. “Das pure Leben” und “Jegliches hat seine Zeit” – das ist dieselbe Ebene der dichten, von Emotionen beschwerten, aufs Rudimentäre geworfenen Alltagswelten. Denn wo Konsum und bunte Oberflächen nicht ablenken vom Eigentlichen, da rückt der unverstellte Augenblick in den Fokus, da gewinnen auch die scheinbar so simplen Höhepunkte des Lebens ein ganz anderes Gewicht – Geburt und Krankheit, Liebe und Partnerschaft, Geselligkeit, Kinderspiel und die Begegnung auf der Straße.
Norbert Vogel ist nicht der einzige, der sich so konsequent der Autorenfotografie gewidmet hat. Er gehörte zu jenen jungen Fotografen, die auch bewusst auf lukrative Festanstellungen verzichtet haben, um sich den Freiraum für die eigene Fotografie und das unabhängige Arbeiten zu bewahren. Ganz bewusst ging er da hin, wo die existenzielle Wirklichkeit zu sehen war – in Krankenhäuser, Altersheime, Schulen für Körperbehinderte, Reha-Kliniken, in Schulen, Hinterhöfe und Jugendklubs. Ist ja nicht so, dass die Bewohner des Landes nicht lebten, nicht ihre Träume und Hoffnungen zu erfüllen versuchten – angefangen vom ersten, winzigen eigenen Wohnraum bis hin zu den Träumen vom Freisein und Fliegen. Der Ikarus ist so allgegenwärtig wie der Sisyphos, die stille Erwartung im Klub der Alleinstehenden genauso wie die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben auch im Alter.
Wer diese Bilder sieht – selbst die seltsamen zum Fahnenappell am Denkmal für den kleinen Trompeter oder zum Manöver Schneeflocke, der bekommt schon so eine Ahnung vom unpassenden Leben in einem Land, das Unangepasstsein stets als riesigen Affront betrachtete. Trotzdem passte fast nichts, fehlte es an allen Ecken, wirkten selbst die straff durchgezogenen Staatsakte wie befremdliche Inszenierungen. Die Lücke zwischen Alltag und aufgesetzter Erwartung klaffte immer weiter auseinander.
Und nicht ohne Grund stand die Wiederaufführung von “Paul und Paula” 1993 am Beginn dessen, was ein paar flinke Schlagzeilenschreiber dann Ostalgie nannten: Der Film erfasste die Gefühlmelange, die das (eigentliche) Leben in der DDR ausgemacht hatte, sehr genau – die allgegenwärtige Trauer über das Nicht-Lebbare genauso wie das zutiefste Betroffensein von der Wucht von Liebe, Trennung, Verlust. Gerade die scheinbare Ärmlichkeit des Lebens in diesem kleinen Land bestärkte dieses biblische Lebensgefühl, dass es tatsächlich immer nur um das Wesentliche geht, um die Dinge, die Leben ausmachen. Nichts sonst.
Und genau das hat auch Vogel eingefangen. Selbst in Fotoserien, die er ganz offiziell für Publikationen wie “Deine Gesundheit” anfertigte. Er hat den üblichen offiziösen Blick auf die “Errungenschaften” auch dort verlassen, hat die jungen und alten Akteure in den Fokus genommen, die menschliche, mitfühlende Perspektive gesucht und auf eine faszinierende Art auch gefunden. Man sieht den Bildern an, dass der Fotograf hier immer vorgearbeitet hat – die Atmosphäre gelockert hat, das Vertrauen der Helden seiner Bildgeschichte gewonnen hat. Sie präsentieren sich nicht – sie sind präsent: nachdenklich, stolz, traurig, konzentriert.
Oft genug auch von jener erstaunlichen Gelassenheit, die es heute in einer Zeit der Menschen, die keine Zeit mehr haben, gar nicht mehr gibt. Ein müßiges Land? Manchmal schon, auch wenn die Meisten immerfort beschäftigt waren. Aber zum Puhdys-Sound von “Wenn der Mensch lebt” gehört nun einmal auch das Gefühl, Zeit zu haben und sie nicht zu verschwenden, wenn man sich all den kleinen Dingen und Gesten und Momenten widmet, aus denen am Ende ein ganzes Leben zusammengesetzt ist. Deswegen wirkt die DDR – so von außen und im Nachhinein betrachtet – irgendwie größer, als sie war. Eine viel zu kleine Eierschale für so viel gelebtes Leben.
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