Wo ist eigentlich das literarische Denkmal für die DDR-Clubs, die im Fußball-Europapokal ihr Land vertreten haben? Gottfried Weise hat es ihnen gesetzt. Der Vorzeige-Live-Kommentator und Sportjournalist der DDR hat in seinem Erstlingswerk "Als Maradona 80.000 lockte" auf 207 Seiten alle Spiele, alle Tore und vor allem fast alle Geschichten rund um die internationalen Auftritte aller DDR-Klubmannschaften brillant zusammengefügt.
Stahl Eisenhüttenstadts Abenteuer am Bosporus, als der Vorhang schon gefallen war, wird ebenso beleuchtet wie Halles Feuerhölle in Eindhoven in den 70er Jahren. Und die Höhepunkte, klar, die spielen die Hauptrollen, aber ohne x-mal Ausgekautes wiederzukäuen. Gottfried Weise hat sich auf die Suche nach Neuem gemacht. Er hat es gefunden. Kurzum: Ein Buch, das gerade noch gefehlt hat …
515! Spiele bestritten DDR-Clubs im Europapokal.
Na klar, auf die großen Spiele kommen die Fußballexperten zwischen Ostsee und Erzgebirge binnen Sekunden: Dynamo Dresden gegen die Bayern in der Saison 1973/1974, Magdeburgs Sieg gegen den AC Mailand in derselben Saison, der einzige Europapokalsieg einer DDR-Mannschaft, Loks Triumphe 1973/1974 und 1986/87 mit dem blaugelben Hexenkessel gegen Bordeaux, Jenas Wunder gegen den AS Rom und die tragische Niederlage gegen Tiflis 1980/81, Dynamo Dresdens Untergang in Uerdingen 1986/87 und das traurige Ende im Europapokal für die Schwarzgelben gegen Roter Stern Belgrad 1991.
Doch wer wüsste, dass diese Historie mit Wismut Aue begann? Ja, eigentlich mit Fritz Walter und dem Gastspiel seiner Lauterer in Leipzig gegen Karl-Marx-Stadt vor 110.000 Zuschauer im Jahre 1956. Ja, da verlieren die Lippen an Spannkraft.
Auch wenn der DDR-FCK letztlich in diesem Spiel mit dem Walter’schen Jahrhunderttor als Verlierer vom Platz ging: Es zeigte den Fußballfunktionären der jungen DDR, dass ihre Clubs international konkurrenzfähig sind. 1955 und 1956 hatten die DDR-Oberen aus Angst vor Blamage noch die Konkurrenz gescheut. Und so beginnt am 11. September 1957 im Gwardia-Stadion zu Warschau die 515 Spiele lange EC-Geschichte der DDR-Clubs mit einer 1:3-Niederlage des damaligen SC Wismut Karl-Marx-Stadt.
Gottfried Weise begeht in seinem Buch „Als Maradona 80.000 lockte“ nicht den Fehler, jedes einzelne Europapokal-Spiel nachzuerzählen, jedes Tor, jede strittige Szene zum Skandal zu stilisieren. Er macht stattdessen das, was er für die Fußballfreunde an den zunächst wenigen Fernsehgeräten in der DDR fast 30 Jahre lang getan hat: Er kommentiert die wichtigen und spannenden Dinge, so als wenn er gut vorbereitet am Mikrofon säße und seinem Publikum einen launigen Fußball-Abend bescheren wolle, er webt Geschichte in Geschichte ohne den roten Faden aus dem Auge zu verlieren. Und gleich einem Fußballspiel lässt er davor, danach und zwischendurch auch immer wieder Zeitzeugen ihre eigenen Leistungen und zuweilen ihr Fußballer-Leben kommentieren.
Jeder EC-Teilnehmer aus der ehemaligen DDR hat sein Kapitel bekommen, was natürlich je nach Historie länger und kürzer ausfällt.
Die tragischen Dynamo-Spiele haben ebenso ihren Platz wie die Brandkatastrophe in Eindhoven, bei der ein Spieler des Halleschen FC starb oder der Ausflug der Amateure von Stahl Eisenhüttenstadt nach Istanbul. Die Brandenburger hatten im letzten FDGB-Pokalfinale der DDR gestanden und verloren.
Aber weil Rostock auch Meister war, durften die Hüttenwerker in den Europapokal der Pokalsieger und kamen nach dem politischen Ende der DDR noch zu ihrem internationalen Auftritt samt Tor. So fällt auch die Statistik zum Abschluss des Europapokal-Kapitels des EFC Stahl deutlich kleiner aus als die für Dynamo Dresden, Magdeburg, Jena oder Lok Leipzig. Sie rundet ein jedes Kapitel ab und lädt zum Schmökern ein.
Die Kapitel leitet Weise reportageartig geschickt ein, spannt einen Bogen und lässt auch zwischendurch viel die Protagonisten selbst sprechen oder erzählt den Gang der Ereignisse aus seiner Sicht. Das kann Weise, weil er selbst seit Anfang der 70er Jahre zahlreiche EC-Spiele der DDR-Clubs kommentiert hat. Doch der Autor überhöht sich dabei nicht selbst, wie es sicher so mancher getan hätte. Eine absolute Stärke dieses Buchs.
Genauso wie Weises Interviews, die in nahezu jedem Kapitel den Darstellungstext anreichern und sich nur selten nur auf ein Thema beschränken. Allein das neunseitige (!) Interview mit Hans Meyer sind die 19,90 Euro wert. Meyer und Weise kennen sich über 40 Jahre und das spürt der Leser in diesem Interview. Der „Mr. Europacup“ der DDR zaubert so manche Geschichte hervor und erzählt sie in gewohnt zynisch-intelligenter Art und Weise.
So soll einer seiner Spieler bei einem Ausflug zu den Pyramiden gemosert haben „Ooch, schon wieder Steene“, während ein „prominenter Torjäger“ die Akropolis für ein zünftiges Skat-Spiel sausen ließ. Weises Fragen an Meyer sind nicht auf dessen Karriere beschränkt, gemeinsam hangeln sich die beiden durch das Fußball-System made in GDR.
In 64 Europapokalspielen saß der Erfolgstrainer auf der Bank eines DDR-Clubs (56 Jena, 8 Chemnitz).
Kein Wunder, dass ihm die größte Interview-Rolle in diesem Buch zugedacht wurde. Aber auch all die kleinen Interview-Nebenrollen leisten ihren Beitrag zu diesem Europapokal-Panorama, auch weil Weise nicht nur auf die Hauptakteure der Geschichte zurückgreift, sondern auch die Nebenakteure aufgesucht hat. So darf beispielsweise Magdeburgs Helmut Gaube über seinen unverhofften Einsatz im Europapokal-Finale gegen den AC Mailand plaudern. Der Niederndodelebener hat nur 43 Pflichtspiele für Magdeburg bestritten und sollte im EC-Finale 1974 urplötzlich Rivera ausschalten.
Der ehemalige, nunmehr hochbetagte BRD-Innen- und Außenminister Hans-Dietrich Genscher flog einst mit dem Hubschrauber über die deutsch-deutsche Grenze, um die Bayern nahe der alten Heimat spielen zu sehen. Weise hat ihm dazu ein paar Fragen stellen können. („Wie haben Sie die Rufe ‚Genscher kommt’ aufgenommen?“). Der ehemalige Chemie-Torhüter Klaus Günther berichtet über seine Flucht aus der DDR nach einem EC-Spiel seines Clubs bei Standard Lüttich.
Zusätzlich hat der langjährige Reporter in seinen eigenen, alten Materialien gewühlt und so manch interessante Begegnung zu neuem Leben erweckt. So plaudert Johann Cruyff anno 1971 im berühmten Weimarer Hotel „Elephant“ über seine Einstellung zu Geld, erklärt seinen Rempler gegen den Markranstädter WM-Schiedsrichter Rudi Glöckner und erzählt, dass er so „in ein, zwei Jahren“ nach Spanien wechseln wird. Tatsächlich spielte Cruyff ab 1973 bei den Katalanen. Walter Fritzsch erzählt in der Stube seiner Wohnung im 14. Stock sitzend kurz vor seinem 65. Geburtstag freimütig, warum er selbst keine Kinder hat („Keine Zeit“) und wie er Dixie Dörner einst formte. Und als wäre das noch nicht genug, hat Weise auch noch alte Kollegen in sein Buch geholt. Der einstige Chefredakteur Sport im DDR-Fernsehen Ulli Meier verrät, dass Stasi-Club BFC Dynamo einst einen Reporter wegen zu kritischer Berichterstattung ablehnen wollte und warum mitten in der Verlängerung des Rückspiels BFC gegen den FC Aberdeen das „Sandmännchen“ und nach einer kurzen Schalte zurück in den Jahn-Sportpark auch noch die „Aktuelle Kamera“ ausgestrahlt werden musste.
Selbstredend widmet Weise auch den beiden Leipziger Clubs ihr Kapitel.
Über die blaugelbe Mannschaft schreibt er gar euphorisch „Als Reporter vom DDR-Fußball habe ich mit dem 1. FC Lok Leipzig die meisten Sternstunden erlebt. Dank des Teams um René Müller und Trainer Uli Thomale: Meine Loksche lob ich mir“. Zur 87er Saison hat er sich Olaf Marschall, der damals ebenso nur eine Nebenrolle spielte, ins Boot geholt, Uwe Karte illustriert doppelseitig seine Reise mit Wolfgang Altmann zu dessen Freund aus Jugendtagen Gernot Rohr. Gemeinsam knäckern sie mit einem Trabant am Cap Ferret entlang. Dazu hat sich Weise auch für dieses Kapitel ein paar fotografische Augenschmäuse ausgesucht.
Die grünweißen Fußballfreunde können sich auf das Interview mit Klaus Günther und eine dreiseitige Beschreibung der recht kurzen EC-Historie (6 Spiele) ihres Clubs freuen. Retrospektiv interessant: Nach der sensationellen Meisterschaft 1964 traf Chemie auf Vasas Györ, trainiert vom ungarischen Wunder-Mittelstürmer Nándor Hidegkúti. Doch sowohl vor 50.000 im Zentralstadion (0:2), als auch im Rába ETO Stadion in Györ (2:4) hatte der DDR-Meister das Nachsehen und kehrte nur noch einmal, 1966/1967 im Europapokal der Pokalsieger auf die internationale Bühne zurück.
Und so tastet sich Weise Club um Club vor und holt so manche Episode zurück in die Erinnerung. Vielleicht schafft es sein Buch auch in die Buchläden in der ehemaligen BRD. Dann würde sich möglicherweise auch etwas daran drehen, dass in Fernseh-Talkshows nicht über den Ostfußball gesprochen wird. „Der DDR-Fußball ist tot“, meckerte Jürgen Sparwasser genau deswegen gegenüber Gottfried Weise vor wenigen Jahren. Es war der Ansporn für den Autor, dieses Buch zu schreiben – und zumindest die EC-Geschichte des einstigen Landes wieder auferstehenden zu lassen.
Und morgen an dieser Stelle das Interview mit Gottfried Weise: Der Sportjournalist spricht darin über seine TV-Nachfolger, die Angriffe auf Kommentator-Kollegen Marcel Reif, 270 Minuten mit Hans Meyer, über den Europacup heute und seine bitterste Stunde als Fußballkommentator in der DDR.
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