Gäbe es nicht auch die Preise für Sachbuch und Übersetzung - man könnte verzweifeln am "Preis der Leipziger Buchmesse". Gibt es wirklich keine aufregende Belletristik in Deutschland? Lesen die Chef-Feuilletonisten des deutschen Literaturteils tatsächlich am liebsten diese konstruierten Erlebnisse aus einer fabulierten Wirklichkeit, die so wenig bis nichts mit dem Leben in unserer Gegenwart zu tun haben? Am 5. Februar wurden die Nominierungen für den "Preis der Leipziger Buchmesse" bekannt gegeben.

Sogar ein Gedichtband ist unter den fünf für Belletristik nominierten Titeln: Jan Wagners “Regentonnenvariationen”, über das die Jury urteilt: “Ein Gedichtband, in dem die Regentonne zur Wundertüte wird, der Giersch zur Gischt, Unkraut und unreiner Reim ihren Charme entfalten und die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht Halt macht: Lyrik voller Geistesgegenwart.”

Dass ausgerechnet Jan Wagner unter den Nominierten auftauchen würde, kündigte sich übrigens schon im Oktober an, als Jury-Mitglied Hubert Winkels zusammen mit Hajo Steinert und Denis Scheck auf der Frankfurter Buchmesse bedauerte, dass Lyrik beim Buchpreis einfach nicht auftauchte. Jan Wagner empfahlen sie damals schon mal explizit und verglichen ihn damals schon mal mit Robert Gernhardt.

Möglich, dass das Leser interessiert und begeistert. Wirklich aufregend klingt das nicht. Genauso wenig wie die Themen der anderen vier Titel, die die Jury nominiert hat im Bereich Belletristik:

Ursula Ackrill “Zeiden, Im Januar”: Erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, eine Geschichte, die in Siebenbürgen im Winter 1941 handelt und in dem die Jury alte, raabesche Erzähltugenden wiedergefunden hat: “Ursula Ackrill portraitiert mit altösterreichischem Kolorit die widerborstige Stadtchronistin Leontine Philippi als Kassandra Siebenbürgens: ein frappierend dichtes und arabeskenreiches Gewebe aus Körpern und Dingen, Sachsenstolz und Heimatdrang, Fortschritt und Rücksichtslosigkeit, Paradies und Sündenfall.”

Teresa Präauer “Johnny und Jean”: Erschienen im Wallstein Verlag, ebenso eine Geschichte, deren Motiv an Keller und Storm erinnert: “Jury Johnny und Jean erzählt von zwei Freunden, die in die Stadt aufbrechen und als Künstler ihr Glück suchen. Die skizzenhaft hingetuschte Erzählung lässt offen, was Wahrheit ist und was Vorstellung und ist zugleich ein virtuoses Spiel mit Bildern.”

Diese typisch deutschen Grenzgänge zwischen Traum und Wirklichkeit dominieren die empfohlene Literatur aus den Zeitungsbeilagen nun seit Jahren. Ist der Wunsch zur Verklärung der Gegenwart tatsächlich so groß? Oder lassen sich das die Kauflustigen nur einreden und lesen die Träume dann doch nicht?

Norbert Scheuer “Die Sprache der Vögel”: Ein Hauch von Begegnung mit einem Zipfel Gegenwart. In der Kurzzusammenfassung liest sich das so: “Paul Arimond kommt 2003 mit Anfang 20 als Sanitäter der Bundeswehr nach Afghanistan, in ein Land, das schon sein Ururgroßvater einst auf der Suche nach der Universalsprache der Vögel bereist hatte. Auch Paul, geplagt von Schuldgefühlen nach einem von ihm mitverursachten Autounfall, liebt es, Vögel zu beobachten und Aufzeichnungen über sie zu machen. Sie scheinen nach einer anderen Ordnung und mit anderen Freiheiten zu leben. Inmitten einer zunehmend gefährlichen Bedrohungslage beginnt Paul immer unberechenbarer und anarchischer zu handeln.”

Aber auch diese Fabel kommt ohne den opportunen Grenzgang ins Reich der Verklärung nicht aus, wie die Jury feststellt: Extrem dicht und zugleich wie hingetuscht erzählt Norbert Scheuer von einem jungen Mann, der freiwillig als Sanitätsgefreiter nach Afghanistan geht. Ein Roman über Erinnern und Vergessen, Tod, Schuld und Krieg, aber auch über die Schönheit der Natur, die Poesie der Sprache und des Vogelflugs.

Michael Wildenhain “Das Lächeln der Alligatoren”: Erschienen im Klett-Cotta Verlag. Es ist das beliebte Traum-Umkehr-Buch über das Erwachen des Gutgläubigen. In der Kurzzusammenfassung: “Der Roman ‘Das Lächeln der Alligatoren’ entwickelt langsam, aber in intensiven Bildern das Verhältnis eines Jugendlichen zu seinem behinderten Bruder, der in einem Heim auf Sylt betreut wird. Ein Besuch dort nimmt eine unerwartete Wendung, als Matthias sich in Marta verliebt, die Betreuerin seines Bruders. Sie führt ihn in Studentenkreise ein, die einer radikalen Gruppierung angehören. Matthias lässt sich auf Marta und ihre Überzeugungen ein, ignoriert Vorzeichen und Zweifel. Was Martas Absichten sind, wird ihm erst allzu spät klar.”

Dass sie solche Konstruktionen von Herzen liebt, betont die Jury in ihrem Urteil auch: “In Das Lächeln der Alligatoren kommt der versierte Romankonstrukteur Wildenhain zum Zug und verbindet überzeugend alle Fäden der frühen Pathologie mit einer Geschichte der Revolte.”

Solche Bücher sind es, die wirklich aufs Leben versessene Leser in andere Abteilungen der Buchhandlungen vertreiben, wo man keine Kopfschmerzen bekommt, wenn man auch nur die Waschzettel liest. Auch zu Krimi und Fantasy, die jedenfalls in den jährlichen Jahresproduktionen der Großverlage einfach mit mehr Realitätssinn aufwarten können, als alle diese schönen Konstruktionen einer Pathologie des kleinbürgerlichen Ausbruchversuchs.

Vielleicht sind es einfach auch noch die langen Nachwirkungen der über Jahrzehnte so glorios gefeierten Großautoren, die versuchten, in die Fußstapfen der Goethes und Hauptmanns zu treten – all der Simmels, Walsers, Grass. Da liest man doch lieber gleich wieder Wilhelm Raabe.

Oder freut sich auf den möglichen Preisträger in der Rubrik Sachbuch.

Nominierungen Sachbücher

Da taucht auch dieses Jahr wieder ein Autor auf, den die L-IZ-Leser schon kennen:

Philipp Ther “Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa”: Das bei Suhrkamp erschienene Buch über die neolibralen Umwälzungen in Osteuropa, das auch einmal auf wirtschaftlicher Datenbasis erklärt, warum einige politische Entwicklungen im Osten (und dazu gehört auch Ostdeutschland) so gelaufen sind, wie sie liefen, warum einige Länder durch diese Brachialreformen (“Schocktherapie”) auf Jahrzehnte in die Krise stürzten, andere sich aber mit teilweise überraschend kreativen Lösungen schneller oder langsamer erholten. Ein Buch für alle, die noch nicht so richtig glauben wollen, dass politische Entwicklungen immer aufs engste mit den wirtschaftlichen verbunden sind.

Aber auch die anderen vier vorgeschlagenen Titel haben den Sachbuchmarkt mit neuen Themen bereichert:

Philipp Felsch “Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960 bis 1990”: Aus dem Verlag C. H. Beck, ein Buch, das die Jury als “heimliche Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik” preist. Was wohl auch genau so stimmt, denn mit den Sechzigern (von denen ja die 68er nur der Höhepunkt waren) kam auch ein riesiger Berg gesellschaftlicher Theorien und Utopien in die öffentliche Diskussion. Das überfordert einige Kommentatoren des Zeitgeschehens sogar heute noch, wo sie ihren Rochus auf die “Gutmenschen” auch auf Titelseiten austoben können, obwohl sie eigentlich wütend sind auf diese kluge, diskussionsfreudige und wissenschaftsverliebte Welt, die das dumpfe Eigenbrötlerdasein der deutschen Intelligenz erst aufgebrochen haben. Es erstaunt schon, dass dieselbe Jury, die lauter Weltfluchtromane in der Belletristik nominiert hat, so ein Buch bei den Sachbüchern nominiert.

Ganz ähnlich ist es mit Karl-Heinz Göttert “Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik” (S. Fischer Verlag) oder Joseph Vogl “Der Souveränitätseffekt” (diaphanes Verlag), immerhin ein Buch, das sich (ganz in der Tradition der Sechziger) mit der hochaktuellen Frage beschäftigt, wer in den Zeiten der heutigen Finanzkrise eigentlich noch der politische Souverän ist.

Und für Literaturliebhaber natürlich ein sehr reizvoller Vorschlag ist Reiner Stachs “Kafka. Die frühen Jahre” (S. Fischer Verlag), mit dem er seine dreibändige Lebensbeschreibung Kafkas vollendet.

Hier werden fünf Autoren gewürdigt, die sich wirklich mit Lust in ein reales Arbeitsthema hineingekniet haben.

Nominierungen Übersetzungen

Und richtige Arbeitstiere sind natürlich auch die Übersetzer, deren Wirken viele Leser gar nicht registrieren, obwohl sie – oft mit genialer Könnerschaft – die besten Werke der Weltliteratur ins Deutsche holen. Möglich, dass eine in diesem Jahr hier besonders gute Karten hat, den Preis zu bekommen: Elisabeth Edl, die Patrick Modianos “Gräser der Nacht” aus dem Französischen übersetzt hat. Bis zum Oktober war Patrick Modiano ja fast nur etwas für Eingeweihte und Liebhaber. Aber dann bekam er den Nobelpreis zugesprochen. Und das deutsche Feuilleton tat von Alpen bis Nordsee reineweg verblüfft.

Aber sicher ist dieser Sieg nicht. Denn Thomas Steinfeld hat mit seiner Neuübersetzung von Selma Lagerlöfs “Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden” (Die Andere Bibliothek) aus dem Schwedischen die Kenner der Materie 2014 schon sehr überrascht. Die Übersetzung zeigte erst einmal, dass das überhaupt keine brave Kindererzählung war, sondern eine Geschichte mit ganz großem gesellschaftlichem Atem. Da braucht es manchmal erst einen Übersetzer, der fähig ist, das in all seinen Facetten auch zu übersetzen.

Und die Konkurrenz hat große Namen. Auch Mirjam Pressler ist nominiert mit dem aus dem Hebräischen übersetzten Buch von Amos Oz “Judas”.  Moshe Kahn, der Stefano D’Arrigo “Horcynus Orca” (Suhrkamp Verlag) aus dem Italienischen übersetzte, hat genauso Eindruck gemacht wie Klaus Binder, der sich an einem Uralt-Werk versuchte, von dem es eigentlich schon Dutzende Übersetzungen gibt. Aber da es hier um strenge lateinische Hexameter geht, versucht sich jede (Dichter-)Generation an Lukrez’ “Über die Natur der Dinge” aufs Neue und verleiht ihnen, wie die Jury sagt, “neuen Glanz”. (Verlag Galiani Berlin)

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