Sagen wir es mal so: Dichter aus Sachsen haben denkbar geringe Chancen, jemals auch nur auf die Nominierungsliste fรผr den "Preis der Leipziger Buchmesse" zu geraten. Das liegt nicht an ihrer Produktivitรคt und auch nicht an der Qualitรคt ihrer Texte. Es liegt schlicht an der Mode, die ja bekanntlich teilt - in das, was die diversen Jurys derzeit gerade fรผr opportun halten. Und was nicht. Einer wie Peter Gehrisch ist es natรผrlich nicht.

Das Wรถrterbuch รผbersetzt opportun mit โ€œgelegen, nรผtzlich, bequem, passend, angebrachtโ€. Jurys neigen dazu, im Konsens zu arbeiten und sich gemeinsam auf das kleine gemeinsame Inselchen vorzutasten, wo sich ihre Arbeitserfahrung aus einem fรผr gewรถhnlich selbst schon opportunen Feuilleton verbindet mit den Erwartungen des Preisstifters, mรถglichst kein kontroverses Preisergebnis zu bekommen. So sehen dann auch die jeweiligen Nominiertenlisten aus, auch die fรผr den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse.

Und das ist natรผrlich auch und gerade aus Sicht der in Sachsen und Umgebung heimischen Verlage ein eher bedrรผckendes Ergebnis. Auch weil das Jahr fรผr Jahr so ist und damit auch ein keineswegs langweiliger Literaturkreis vรถllig aus dem Fokus der prรคsidialen Wahrnehmung verschwindet. Wer sich nicht mit artistischen Kopfgeburten einer wie konstruiert wirkenden Papierwirklichkeit beschรคftigt, bleibt preislos. Oder bekommt eher die lokalen kleinen Wรผrdigungen, in denen wenigstens die lokale Politik wรผrdigt, dass hier Leute sind, die die Welt eigenwillig, klug und professionell betrachten. Denn das gehรถrt dazu. Es ist auch eine Lebenserfahrung fรผr Leute wie Gehrisch, den man ohne Abstriche zur โ€œSรคchsischen Dichterschuleโ€ zรคhlen kann, wie sie der Leipziger Poetenladen mit seiner groรŸen Anthologie zu dieser Schule einmal definiert und vorgestellt hat. Ein dicker Band, der deutlich machte, wie sich dichterisches Handwerk professionalisiert, wenn Kรถnner miteinander in Dialog treten. Und wenn sie auch noch gezwungen sind, ihre Texte zu feilen, bis auch der Zensor nicht mehr wagt, die Schere anzusetzen. (Was dazu gefรผhrt hat, dass in der DDR keine Gedichte verboten wurden, sondern immer komplette Gedichtbรคnde auf dem Index landeten. Oder Dichter gleich komplett mit Nichtachtung gestraft wurden.)

Was hat das mit Gehrisch zu tun? Der 1942 in Dresden Geborene kommt aus dieser Landschaft, die zeitweise hochpolitisch war und es in vielen neueren Arbeiten auch wieder wird. Denn eine Grundkonstante der Sรคchsischen Schule ist auch immer gewesen (Maurer, Erb, Gosse, Grรผneberger, Bรถhme, Reimann, Bartsch & Co. stehen dafรผr), dass sie das eigene Betroffensein von Leben und Welt nicht ausblendete, sondern oft genug auch ins Zentrum ihrer Balladen, Poeme, Elegien setzte. (Die zweite Grundkonstante war immer die hohe technische Fertigkeit, die die Sรคchsische Schule der Leipziger (Maler-)Schule teilweise verwandt macht.)

Und beides findet man auch in diesem Gedichtband von Peter Gehrisch, den die literarische Welt vor allem als Herausgeber der Dresdener Zeitschrift fรผr Literatur und Kunst โ€œOstragehegeโ€ kennt. Und als รœbersetzer aus seiner zweiten Wahlheimat, Polen. Im Leipziger Literaturverlag hat er zum Beispiel รœbersetzungen von Strugalas, Koziol und Norwid vorgelegt. Notwendige รœbersetzungen, mit dem die emsige Fรคhrarbeit des kleinen Leipziger Verlages gestรคrkt wird, der sich um wichtige Autoren aus dem europรคischen Osten bemรผht.

Gehrisch selbst lebt auf beiden Seiten der Grenze โ€“ in Dresden und in Lwowek Slaski. Und er pflegt noch ein drittes Element, das man in der Sรคchsischen Dichterschule immer wieder findet: den hohen Grad an Welt-Belesenheit. Er erwรคhnt die Bibliothek nicht nur, in der er sein tรคgliches Tagwerk verbringt, er zitiert auch emsig daraus. Denn das ist der Stoff, aus dem die Sรคchsische Dichterschule gemacht ist: das hohe Form- und Stilbewusstsein der klassischen Literaturen, die er emsig zitiert, von den alten Griechen bis zu den beiden in Weimar auf dem Sockel stehenden. Und er zitiert sie nicht nur als Bestรคtigung seiner eigenen Umwege und Einsichten, sondern auch (auch das gehรถrt dazu) im ironischen Widerspruch. Wer die Technik der Meister gelernt hat, kann die Meister auch kritisieren.

Aber: Darum geht es eigentlich nicht. Auch wenn Gehrisch im Titel gerade den wissenschaftlichen Grund seiner Dichtung betont, den โ€œglimmenden Ring meiner Lichtwissenschaftโ€. Der umfasst รผber 2.500 Jahre. Und damit ist Gehrisch auch ein lebendiger Widerspruch zu einer Welt, in der jeder Depp der Inhaber der allgรผltigen Wahrheit zu sein scheint. Und das auch noch mit breiter Brust, ohne jeden Zweifel.

Der Gebildete, wie Gehrisch einer ist, der zweifelt immer. Weil bei ihm noch Platon und sein Hรถhlengleichnis auf dem Lehrplan stand (oder als Feierabendlektรผre genossen wurde), Norwid aus dem Osten seine Gesรคnge anstimmte, E.T.A. Hoffmann als kleines, grimmiges Mรคnnlein durch das alte Dresden huschte und zur frรผhen Lektรผre natรผrlich Collodi, Lewis Carroll und Jules Verne gehรถrte, bevor in spรคteren Jahren die Autoren der Tauwetter-Literatur dazu kamen. So wird einer ein stiller, aber beharrlicher Rebell. Der sich dann irgendwann auch hinsetzt, sein ganzes Leben in Gedichte zu fassen. Und das ist dieser Gedichtband hier, auf den man auch hรคtte โ€œPoemโ€ schreiben kรถnnen oder โ€“ frei nach Neruda โ€œGroรŸer Gesangโ€. Denn das ist Gehrischs groรŸer Gesang, sein faszinierender Versuch, ein Leben in den Extremen in Strophen und Kapitel zu fassen.

Der Geburtsort erklรคrt schon, mit welchem Extrem dieses Leben begann: mit dem Extrem des zerstรถrten Dresdens, den brennenden Leichenbergen, den wahnwitzigen Ruinen. Abgelรถst vom nรคchsten Extrem, das seine Jugend bestimmte: den Tritt fassenden Stalinismus, der der Trรผmmerlandschaft das geistige Tabula rasa folgen lieรŸ und die Erstarrung eines Landes, das nicht mehr vom Fleck kam. Das Gefรผhl, ein ganzes Leben im Wartezustand verbringen zu mรผssen. Bewegung nur noch in der Vergangenheitsform. Eine Erfahrung, die er mit all den anderen  Wartenden teilte. Freilich nicht ganz. Wer lesen konnte und Phantasie hatte, der floh in die Welten der groรŸen literarischen Abenteuer.

Was nicht bedeutete, dass er 1990 mit Freude die Ankunft der bunten neuen Welt genoss. Der gedruckten zumal. Vor diesen Dichtern mit dem grimmigen Blick hatten nicht nur die Zensoren immer Angst. Was, wenn sie dem gerade real Existierenden einfach alle Gloria absprachen? โ€“ Gehrisch tut es und ist maรŸlos enttรคuscht: โ€œMรถchtegern-Dichter / Geblendet von Glitzern und greller Reklameโ€. (Tag der deutschen Einheit). Wieder sind es die Belanglosen, die im Rampenlicht stehen.

Das hatte man ja schon alles. Wenn Themen ihn aufregen, blendet Gehrisch zurรผck, immer wieder tauchen die nicht nur ihm Vertrauten auf: Hรถlderlin, Bรผchner, B. Traven oder Chamisso mit seinem Schlemihl, mit dem man sich so eins weiรŸ, wenn man den letzten Taler aus der Tasche kramt: โ€œIch bin doch aber nur Schlemihl!โ€ (Chamisso). Wer eine solche Bibliothek hat, der ist nicht mehr heimatlos, auch wenn ihm drauรŸen die Welt-Winde um die Ohren pfeifen und Uncle Sam neue Mรคrchen erzรคhlt. Zu Hause ist Gehrisch aber in einer Welt, in der das Sรคchsische nahtlos ans Polnische und Tschechische grenzt. Missverstรคndnis eingeschlossen. Und am Ende weiรŸ man nicht so recht, welches D. er meint in โ€œLiterarisches Leben in D.โ€. Es kรถnnte auch das groรŸe D. sein, in dem opportune Jurys in immer neuen Runden Preise an opportune Autoren verteilen. Das sich im kleinen D. aber spiegelt: โ€œKokarden, Medaillen, Hosenband-Orden / Als Tarnung โ€“ was aus dem Mund tritt: / Geschwafel und Rechthaberei!โ€ (Literarisches Leben in D.)

Da sagen wir jetzt nichts weiter dazu. Denn der GroรŸe Gesang ist bald zu Ende โ€“ seine seelenverwandten Maler erwรคhnt Gehrisch noch und auch Platon taucht wieder auf, so aktuell wie 40 Jahre zuvor. Wieder wirkt so Manches wie ein groรŸes Marionettentheater, in dem die Puppen glรผcklich sind, an Fรคden tanzen zu dรผrfen, ein groรŸes โ€œTheatrum mundiโ€. Eindeutig kann Gehrisch mit geschilderten Farben besser umgehen als der Maler Hubertus Giebe, der hinten im Buch noch einen mit wissenschaftlichem Kauderwelsch gespickten Text zu den Carbonographien beigesteuert hat, die im Buch abgebildet sind, รคsthetisch kleine Kunstwerke von Gerard van Smirren.

Die der Band eigentlich nicht braucht. Gehrisch dichtet so plastisch und bildhaft, dass man seine Phantasie nur schweifen lassen muss und man ist mittendrin in seinem Leben zwischen den Welten, zwischen Platons Hรถhle und einer Stadt, in der das Echo der Kriege lange nachhallt. Am Ende eine Art Lebens-Poem, auf die sรคchsische Art.

Peter Gehrisch โ€œDer glimmende Ring meiner Lichtwissenschaftโ€, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2015, 16,95 Euro

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar