Kapitulation oder Heimkehr? Das weiß Holger Witzel selber nicht so recht. Zwei Bände seiner "Schnauze, Wessi"-Kolumnen hat er im westdeutschen Gütersloher Verlagshaus veröffentlicht. Sie verkauften sich. Wie warme Konsum-Semmeln. Doch der dritte Band erscheint jetzt im ostdeutschen Eulenspiegel-Verlag. Samt einem Nachwort, in dem der Autor frank und frei erklärt: Jetzt hat er selbst die Schnauze voll. Sechs Jahre Pöbeln. Und es hat nichts gebracht.
Es hat den “Stern” in Ostdeutschland nicht zu neuen Erfolgen gefĂĽhrt. Es hat auch die alten Machtverhältnisse nicht verändert. Die Spitzenposten im Osten sind noch immer reihenweise mit Westbeamten besetzt. Die erste Generation der Retter und “Aufbauhelfer” ist zwar längst in Rente, Pension oder wieder heimgekehrt nach Schwaben, Bayern und ins Weserbergland, aber nachgerĂĽckt sind ihre Ziehsöhne aus westdeutschen Universitäten, Kanzleien und Kaderschmieden. Seilschaften nannte man das mal. Und Holger Witzel hat die ganze Zeit gegrĂĽbelt: Woran liegt das? Er hat das westdeutsche Bildungssystem analysiert, die Erziehungsmethoden, die Vorurteile und Anpassungsmethoden … Ach nee, die gibt es ja gar nicht. Das ist ja eine ostdeutsche Eigenschaft, dieses Kleinmachen, nur ja nicht auffallen, nur ja nicht aus der Reihe tanzen. Liebevoll hat Witzel auch all die richtigen und die getĂĽrkten Studien zur deutschen Einheit, Zweiheit, Ignoranz auseinandergenommen. Was ja einfach ist. Man kann ja googeln und bekommt ziemlich schnell heraus, wo die Autoren und die Auftraggeber sitzen.
Es ist ein HeidenspaĂź, den er treibt. Ob nun politische GroĂźmäuler, MediengroĂźmäuler, TV-GroĂźmäuler oder andere Wichtigtuer – an ihren Geburtsorten kann man sie erkennen. Da weiĂź man, an welchen Schulen sie ihr Abitur geschenkt bekamen und wo sie ihren Karriereseitensprung begannen, der sie aus der fĂĽnften Garnitur West in die erste Garnitur Ost versetzte. Und keiner beschwert sich. Die alten Sozialistationen funktionieren noch immer. Zumindest sieht Witzel es so: Im Osten hat man gelernt, bescheiden zu sein, sich nicht vorzudrängeln, das Wenige, was man hatte, zu teilen, und vor allem die Klappe zu halten, wenn man keine Ahnung hatte.
Seine Analyse des MusterschĂĽlers West ergibt ganz faktisch das Gegenteil
Er hat mit der groĂźen Keule zugeschlagen, die Dinge beim Namen genannt und die Porträtierten gezeichnet, als wolle er ein neues Biologiebuch schreiben – und es hat nichts bewirkt. Die, die er porträtiert hat, haben nicht mal verstanden, warum er sich aufregt. Einige haben im Kommentarbereich zurĂĽckgepöbelt. Gelacht haben nur die anderen, diese seltsamen Ostdeutschen, denen auch ein paar gnädige westdeutsche Forscher zugestehen, dass sie 25 Jahre lang vor allem als Träger der eigenen Selbstverachtungen dienten. Faul wurden sie genannt, von einer Diktatur verdorben, angepasst, ewig jammernd.
Wer das Bild des “Ossis” sucht …
… findet es in den groĂźen Gazetten des Westens genau so – mit all den finsteren Attributen. Was man nicht findet, ist der groĂźe Ausverkauf, die komplette Besitzverteilung von Ost nach West in den Jahren, die man so landläufig “Nachwendezeit” nennt. Wobei man ja “Wende” nicht sagen soll, es war ja eine Revolution. Eine friedliche gar. Aber wie es schon Hans-Joachim Maaz so schön beschrieb: Die Emotionen sind da. Und mĂĽssen irgendwie raus. Nur wo, wenn man sich den lieben BrĂĽdern und Schwestern nicht verständlich machen kann? Denen das auch herzlich egal ist. Denn was es ĂĽber Ossis zu wissen gibt, haben westdeutsche Autoren ja längst wissenschaftlich erforscht. Warum noch die Einheimischen fragen?
Witzels Kolumnen leben vom Selbsterlebten, von der tagtäglichen Begegnung mit den AuĂźerirdischen, die sich so herrlich an Rotkäppchen, Ampelmännchen und anderen Spezialitäten des Ostens erfreuen – auch wenn die Eigentumsrechte irgendwo in der Pfalz oder in MĂĽnchen registriert sind. Futter liefern auch die ĂĽblichen Medienmeldungen – ĂĽber Skandale zum Beispiel, in die dann Erfurter, Dresdner, Brandenburger Polit- und Wirtschaftsgrößen verwickelt sind. Unfähige Ossis? – Eher selten. Zumeist Gschäftlhuber aus hessischen, niedersächsischen oder rheinischen Gegenden.
Die Kolumnen in diesem BĂĽchlein stammen aus den Jahren 2012 bis 2014. Da fällt das groĂźe SPD-Jubiläum mit hinein, das die Genossen irgendwie recht unauffällig in Leipzig feierten, eine neue Flutkatastrophe, bei der alle euphorisch das Gemeinsame feiern durften, gefĂĽhlte 96 Diskussionsrunden um das G8/G9 in bayerischen und anderen Schulen. So ein echtes Westgewächs braucht eben Zeit zur Reife und ist vom – in Sachsen ĂĽblichen – Turbo-Abitur völlig ĂĽberfordert. Oder seine Eltern sind’s. Mit denen hat Witzel ja auch öfters mal zu tun. Froh, dass es genug vorlaute Menschen gibt, die sich heutzutage um Elternsprecherrollen prĂĽgeln. Eine Bundestagswahl lag mit drin, zu der Witzel ein sĂĽffisantes Plädoyer fĂĽrs Nichtwählen schrieb.
Und der Leser darf beim Wiederlesen rätseln:
Ist das wirklich noch Satire oder schon bitterer Ernst?
Mit all den grimmigen Ansagen zu einer Gesellschaft, in der immer mehr an die alte, hingeschiedene DDR erinnert – nur dass das Marketing irgendwie besser ist. Oder bunter. Es ist eine Menge schief gelaufen. Und aus Jochen Schmidts Buch “Weltall Erde Mensch” zitiert er einen Satz, der das Dilemma auf den Punkt bringt – auch wenn es die Angesprochenen vielleicht nie begreifen werden: “Viele haben ja immer noch nicht verstanden, dass es die BRD ohne die DDR nie gegeben hätte.”
Nur in den üblichen Großmedien, die alle irgendwo im Westen gemacht werden, wird noch immer so getan, als gäbe es diese alte BRD noch und müsste gegen die ganzen Zumutungen aus dem Osten bewahrt werden. Auch wenn es nur Satire sein sollte, beschreiben Witzels Sottisen das Urdilemma des deutschen Einheitsbreis, die Tatsache, dass all die Helfer und Bessermacher bis heute glauben, ihre Probleme und Wehwehchen seien auch die ihrer armen Verwandten ostwärts der Elbe. Bis heute wundern sich die Studienersteller darüber, dass von den großen Blättern und Sendern des Westens im Osten so gut wie nichts rezipiert wird. Dann und wann wird ein Feigenblatt produziert, in dem dann etwa mal wieder Sachsen oder Leipzig gebauchmiezelt werden: Was seid ihr toll! Und fette Interviews kommen dann in diesen Sonderbeilagen vor, in denen Westdeutsche (die hier Karriere gemacht haben) Westdeutschen (die noch nicht da waren) erklären, wie toll Ostdeutschland ist.
Natürlich kommen auch die beiden vergeigten Freiheits-Einheits-Denkmale drin vor, beide Fälle typisch für die Arroganz all jener Leute, die von oben herab bestimmen wollen, dass die Berliner und die Leipziger unbedingt so etwas brauchen sollen. Letztlich dreht es sich immer wieder um das eine Grundproblem: Sie können nicht zuhören. Sie wollen nicht zuhören. Sie wissen alles besser. Ach ja: Mittlerweile sind sie auch das Volk. Und die Stadt. Und alles andere.
Verständlich, dass Holger Witzel nach sechs Jahren nicht mehr weitermachen mag
Erst recht, seit zwei Westkollegen angekĂĽndigt haben sollen, nun auch noch ein “Schnauze, Ossi” schreiben zu wollen. Womit man ja wieder genau da wäre, wo man die ganzen letzten 24 Jahre war: Wessis sagen Ossis, wo’s lang geht. Etliche von Witzels Sottisen sind in den letzten Jahren noch schärfer geworden, noch unbarmherziger. Witzels Fazit: “Dachte ich wirklich, ihre selbsttrĂĽgerische Selbstgewissheit mit etwas selbstbewusster Besserwisserei erschĂĽttern zu können? Was fĂĽr ein Selbstbetrug meinerseits!”
Denn das Phänomen, das er beschreibt, hat mit dem Ost-West-Konflikt vielleicht sogar nur am Rande zu tun. Denn als Journalist hat er ja die beratungsresistenten Typen auch in ihrem Westmilieu erlebt. Wo sie sich genauso benehmen, Seilschaften gründen, Vorteile nehmen und Karriere machen. Nicht nur im Osten bleiben immer mehr Leute bei Wahlen zu Hause, weil die selben aufgeblasenen Windbeutel immer wieder gewinnen, egal, was man wählt.
Lange geht das nicht mehr gut, diagnostiziert Witzel, der das “Peter-Prinzip” natĂĽrlich schon in DDR-Zeiten gelesen hat, ohne zu ahnen, wie es in der westdeutschen Praxis lebt und gedeiht. Die Verbitterung ist verständlich, nachdem die Ostdeutschen 1989 ihre eigenen Versager in die WĂĽste geschickt haben. Und nun das. Aber einen Trost gibt es, findet Witzel: Die DDR haben wir selbst abgeschafft, niemand sonst.
Aber auch das klingt heute in den Jubiläumsreden schon wieder ganz anders, die von Leuten gehalten werden, die 1989 sonstwo waren. Nur nicht in der DDR.
* Stichwort “Oktober-Bibliothek”: Vorm Einsatz des neuen CMS der L-IZ gingen auch alle Buchrezensionen aus dem Oktober 2014 im großen Chaos der Digitialmaschine verloren. Also veröffentlichen wir sie in den nächsten Tage noch einmal für alle, die sie schon schmerzlich vermisst haben.
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Das Buch ist “erweckend”, “erinnernd”, “ermahnend”.
Und JA, es setzt in einem selbst Energien frei, die es zu bändigen gilt.
Nach dem Lesen und im Zusammenhang, versteht man so einiges mehr und manches gar nicht mehr.
Antworten findet man wenige – aber Fragen, wichtige Frage stehen auf.
Beginnend mit: Gibt es in den erneuerten Ländern überhaupt einheimische Bürgermeister, oder ist das ein Privileg der Städte und Gemeinden in den veralteten Bundesländern?
Und endend mit: Wieso lassen wir das zu, schauen auf diesen Misthaufen als wäre es Gold?
Was ist mit uns, jedem einzelnen passiert, dass wir es dem scheinbaren Sieger so einfach machen?