Es gibt was zu entdecken in Mitteldeutschland. Das spricht sich herum. Manchmal schneller, wenn ein Leuchtturmprojekt wie der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden für Aufmerksamkeit sorgt, manchmal langsamer, weil sich erst herumsprechen muss, dass hier einige der schönsten Städte Deutschlands zur Stadttour einladen. Aber was ist, wenn die Neugierigen aus aller Welt nur einen Tag Zeit haben für jede Station der Rundreise? Etwa für Görlitz.

Reiseanbieter, die Sachsen-Touren anbieten, haben – wenn sie klug sind – eine ganze Reihe “Beautiful Cities” fest im Programm: Leipzig und Dresden sowieso. Für beide hat der Lehmstedt Verlag zusätzlich zu den deutschsprachigen Stadtführern “Leipzig an einem Tag” und “Dresden an einem Tag” auch schon die übersetzten Taschenführer vorgelegt: beide Städte zu erkunden “in One Day”. Wenn man’s schafft. Es ist das absolute Komprimat. Auch für weltreisende Engländer, Amerikaner und andere Leute, die Englisch sprechen. Leipzig gibt’s inzwischen auch auf Französisch: “Leipzig en une jornée”.

Und Stück für Stück bekommt jetzt auch die übrige Städtelandschaft ein internationales Angebot. Das umfasst auch die Nachbarbundesländer. Denn nur aus regionaler Perspektive machen ja die Landesgrenzen noch irgendeinen Sinn. Wer “the wonderful Saxony” besucht, der nimmt in der Regel auch noch Quedlinburg und Wittenberg in Sachsen-Anhalt mit und Eisenach in Thüringen. Für alle drei Städte gibt’s die One-Day-Stadtführer. Nun ist auch die erste kleinere Perle direkt in Sachsen auf Englisch zu haben: Görlitz. Oder Görliwood, wie es manche Leute gern nennen, weil sich die Filmteams, die eine eindrucksvolle historische Kulisse brauchen, hier in fröhlichem Wechsel einfinden. Sie landen dann meistens auf dem Untermarkt, in der Neissstraße, in der Petersstraße oder im Vogtshof. Und wenn’s mal etwas gruseliger werden soll auch am Finsteren Tor und dem Haus des Henkers (the Ececutioner’s House). Das steht – Henker waren zwar gefragt, aber nicht gesellschaftsfähig – außerhalb der alten Stadtmauern, die auch in Görlitz 1848 abgerissen wurden. “Fortification were removed”, übersetzt es Jutta Rosen-Schinz. Also nix da mit dem schönen Reagan-Ausruf: “Tear down this Wall!”

Obwohl die Wallstraße (Wallstreet?) gleich nebenan ist und auch Amerikaner etwas damit anfangen können. Auch mit der europäischen Lust am Mauerbauen. Denn das, was übrig bleibt, hat immer einen sentimentalen Wert. Auch in Görlitz, wo man sich die hübschesten Teile aus der alten Stadtbefestigung bewahrt hat: the Oxen Bastion (Nr. 13 im Rundgang), den St. Nicholas Tower (Nr. 20), the Reichenbach Tower (Nr. 25), the Kaisertrutz (Nr. 26) und the Women’s Tower am Marienplatz (Nr. 29). Letzterer ist – auch wenn man das so denken könnte – nicht erbaut worden, um widerspenstige Frauen einzusperren, sondern nach den beiden Schutzheiligen der Stadt benannt: St. Mary und St. Barbara.

Natürlich werden auch wieder fleißig Kirchen besucht – sechs Stück an der Zahl. Was auch den Weltreisenden aus dem amerikanischen Bibelgürtel überfordern dürfte. Zumindest, wenn er sich alle sechs an einem Tag vornimmt. Ein Muss ist tatsächlich St. Peter and Paul, die in keinem Görlitzer Stadtführer fehlen darf und als Landmarke über der Neiße trohnt. Immerhin mit Blick auf den polnischen Teil der Stadt, der heute wieder über The Old Town Bridge (die so alt nicht ist, weil zwischendurch ja mal ein bisschen Krieg war) bestens zu erreichen ist. Der Ausflug ist nicht uninteressant, denn drüben laden das Lusitation Museum und das Jacob Böhme House ein. Wer den Philosophen aus dem 17. Jahrhundert noch nicht kennt, dem wird’s in einer kurzen Glosse erklärt. Hegel nannte ihn “den ersten deutsche Philosophen”. Was man bedenken darf beim Hinüberspazieren ohne Schlagbaum und Personenkontrolle. Seit der Osterweiterung der EU ist hier so ein bisschen das wichtige Gefühl zu haben, tatsächlich in der Mitte Europas unterwegs zu sein.

Was in heutigen Zeiten, da sich die zentraleuropäischen Technokraten gern als Richter über die europäischen Randlagen aufspielen, ein nicht unwichtiges Gefühl ist. In Görlitz weiß man, was 40 Jahre Trennung bedeuten. Und wie anders sich eine Welt anfühlt, auf der man auf der Via Regia tatsächlich wieder ohne Gängelei fahren kann.

Jakob Böhme liegt übrigens westwärts der Neiße begraben – auf dem Nikolaikirchhof (St. Nicholas’ Churchyard). Und von da hat man’s nicht weit bis zum Heiligen Grab (The Holy Sepulchre), erbaut vom Jerusalem-Reisenden Georg Emmerich. Am Ende gibt’s noch einen Blick in das berühmte Warenhaus, das wohl schönste, das in Deutschland die Zeiten überdauert hat. Was auch mit der stillen Randlage von Görlitz zu tun hat. Dafür fehlten 2009 die Kunden. Das eindrucksvolle Gebäude steht leer. 2016 soll’s wieder öffnen. Da kann man dann mal schauen, ob dem Investor ein neues, schönes Shopping-Erlebnis eingefallen ist. Durch die Strassburg Shopping Arcade geht’s zurück zum Postplatz, wo der 31-Stationen-Rundgang begann. Herrn Ballack hat man am Ende auch noch kennen gelernt. Noch ein paar Auflagen, und die kleine Biografie wird wehmütige Seufzer bei älteren Herrschaften auslösen, die den “most popular sports star of our time” noch erlebt haben in ihrer Jugend. In Görlitz ist er geboren, beschloss aber im wilden Alter von sechs Monaten, mit seiner Familie lieber nach Chemnitz zu wechseln, wo die Chancen, mal ein großer Fußballer zu werden, eindeutig besser waren. Gleich nach München, das war 1976 noch nicht so einfach.

Eine City Map und eine Timeline ergänzen das taschenkompatible Heft wieder, so dass es gut mit in den Koffer passt, wenn die welthungrigen Reisenden geschafft weiterfahren zur nächsten Attraktion: in Saxony oder Poland – hier ist alles möglich. Man muss nur genug Zeit dabei haben und da und dort einen kleinen Stadtführer mit einem Programm, das einem wenigstens ein Gefühl gibt für den Ort, den man gerade erlaufen hat.

Bestellen Sie versandkostenfrei in Lehmanns Buchshop: Jens Kassner “Görlitz in One Day“, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 4,95 Euro

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