Roman steht drauf. Das ist schade. Es ist kein Roman. Es ist mehr. Ein Novum sowieso. Denn so hat bis jetzt noch niemand über das große Thema Flucht und Vertreibung geschrieben. Ein lange Jahrzehnte belastetes oder verschwiegenes Thema. In der DDR zumindest. Bis ungefähr 1976. Da erschien Christa Wolfs Roman "Kindheitsmuster", der mit dem lange geltenden Tabu brach. Da begannen auch im Osten Viele, ihre Erinnerungen an die verlorene Heimat aufzuschreiben.

So muss es auch in der Familie von Katja Lenßen gewesen sein. Ihr Buch ist keine Erfindung, sondern basiert auf den Aufzeichnungen ihres Großvaters und den vielen Erinnerungen, die in ihrer Familie noch lebendig sind. Das ist noch in vielen Familien so. Noch, muss man sagen. Denn all jene, die ab 1944 die einstmals von Deutschen besiedelten Gebiete im Osten verlassen mussten, sind heute hochbetagt. Selbst die damals Jungen.

Viele dieser Erinnerungen erschienen in den letzten Jahren – viele im Selbstverlag. Denn natürlich sind die Autoren in der Regel keine stilistischen Meister, gar professionelle Schriftsteller, die auch die Tiefe des Materials bewältigen. Und natürlich stehen Viele vor dem großen Dilemma: Wie überwindet man die hohe Hürde der eigenen Betroffenheit und erzählt eine Lebensgeschichte so, dass sie auch nachfolgende Generationen und völlig fremde Leser berührt und interessiert? Viele dieser Erinnerungsbücher schaffen diese Hürde nicht. Dieses hier schon. Denn das Novum daran ist, dass mit Katja Lenßen die Urenkelin das Leben ihrer Urgroßmutter erzählt – ohne sie je kennengelernt zu haben. Denn sie wurde ein dreiviertel Jahr vor dem Tod von Uroma Luise geboren. Die Uroma konnte das kleine Baby noch bewundern. Aber tatsächlich konnte die heute 33-jährige Autorin die Geschichte nur erfahren durch die vielen Erinnerungen im Familienkreis und die Aufzeichnungen ihres eigenes Großvaters, der im Buch natürlich als jüngster Sohn von Luise Dargus auftaucht.

Bis auf die Vornamen Luise und Katja, so betont die Autorin, hat sie alle Namen verfremdet, hat auch viel Phantasie hinzugegeben zu der Geschichte, deren Fakten und Daten freilich alle dem realen Leben der Heldin entsprechen, die in Jonikaten in Ostpreußen 1895 geboren wurde und aufwuchs, während des ersten Weltkriegs Kindermädchen in Halle wurde und nach dem Krieg mit ihrem Jugendfreund Arthur eine Familie gründete und in Robkoje (heute Ropkojai) im damaligen Memelland einen Bauernhof aufbaute. Wo dann auch die Kinder Konrad, Oskar und Leni geboren wurden und aufwuchsen in einer recht einfachen Welt voller Arbeit. Heute gehört das winzige Dorf zu Litauen. Und am Ende des Buches wird Katja selbst an der Stelle stehen, an der einst der Hof der Urgroßeltern stand, den diese 1944 in allerletzter Stunde verlassen mussten. Oder durften. Denn die Front war schon sechs Wochen vorher zu hören. Eine Tatsache, die in vielen Flüchtlingsgeschichten wiederkehrt. Es waren ja die deutschen Machthaber selbst, die die Räumung der Gebiete bis zum letzten Augenblick verzögerten, dann aber dafür sorgten, dass die Trecks mit den Millionen Flüchtenden mitten hinein gerieten in die Kämpfe und die Front, die auch das Fluchtgefährt der Familie Dargus überrollt.

Als längst der Kampf um Berlin tobt, hängt ein Teil der Familie noch mitten in Polen fest. Zwei Jahre dauert die Geschichte der Trennung, an deren Ende sich die Familie in einem Dorf namens Lüsse bei Belzig wiederfindet. Nicht alles, was den Flüchtenden unterwegs geschah, kann erzählt werden. Gerade Leni scheint da so einiges doch lieber auch vor den Eltern verborgen zu haben. Sie wurde später Ordensschwester in Westberlin.

Doch das Ergreifende an dem Buch sind nicht einmal die Geschichten an sich, obwohl einige von ihnen alles haben, was packende Erinnerungen ausmacht. Was schon beim tragischen Tod von Luises Vater beginnt, Katjas Ururgroßvater also. Da und dort erinnern schon die Schilderungen dieser, ein Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse, an die Erzählungen eines der größten Erzählers aus dieser Landschaft: Johannes Bobrowski, dessen Erzählungen bis heute wirken wie Berichte aus einer völlig fremden Welt. Einer Welt, die mit dem zweiten Weltkrieg und der Flucht der Millionen völlig verschwunden ist. Aber in vielen Familien sind diese Erinnerungen wach geblieben. Und Katja Lenßen schildert sehr einfühlsam, warum das so ist und wie lange es dauert, bis dieses Gefühl eines großen Verlustes verblasst, aufgelöst wird im Leben nachwachsender Generationen. Und dennoch als Unruhe bleibt, die selbst noch die Enkel umtreibt.

Natürlich hat das auch mit den Erzählungen der Älteren zu tun, die ihr Leben und ihre verlorene Heimat wachhalten. Auch wenn sie ihren neuen Platz gefunden haben in einer Welt, die aus Sicht der Robkojer natürlich der Westen ist. Auch wenn es dann Städte wie Belzig, Leipzig, Potsdam sind, später Magdeburg, wo Oskar landet. Und auch in diesem neuen Land, das sich dann DDR nannte, endeten die dramatischen Ereignisse im Leben der Familie nicht. Hatte sich Luises Familie schon im Robkojen versucht, von jeder Politik fernzuhalten, so scheint auch alles, was in der DDR passiert, ohne diesen mittlerweile nervenden politischen Anstrich erzählbar zu sein. Man bekommt so eine Ahnung, dass künftig auch über diese 40 Jahre Teilung anders erzählt werden wird, als es derzeit meist noch passiert, wo kaum ein Erzähltext ohne das banale Klippklapp von Mitgelaufen oder Dagegen auskommt. Das wird schon in wenigen Jahren den größten Teil der Wiedervereinigungsliteratur völlig ungenießbar machen. Lesbar ist das Meiste schon jetzt nicht, weil das Wichtigste fehlt.

Und das demonstriert Katja Lenßen geradezu mit Freude: die unbändige Lust am Leben, am Lebendigsein. Ein wenig geprägt vom katholischen Glauben der Urgroßeltern, wobei nicht immer klar ist, ob sie hier Familienerinnerungen aufgreift oder ihre Phantasie spielen lässt, mit viel Einfühlungsvermögen in die Haut ihrer Urgroßmutter schlüpft und der Erzählung ein großes Urvertrauen in die Güte Gottes zugrunde legt. Auch als eine wichtige Erklärung dafür, dass Luise all das, was ihr und ihrer Familie widerfuhr, so standhaft durchgehalten hat. Denn was auf den Flüchtlingstrecks 1944 und 1945 geschah, hatte mit Idylle und Menschenliebe ja nichts mehr zu tun. Die Flüchtenden aus dem fernen Ostpreußen und alle anderen, die sich auf ihrem Weg dazugesellten, erlebten ja nicht nur den Krieg, als er über sie hinwegrollte, sie erlebten auch eine entfesselte Gesellschaft, in der sich der jahrelang aufgestaute Hass austobte, die gesellschaftliche Verwilderung und die doppelte Vertreibung – denn während sich noch die Flüchtlingstrecks aus den eben noch deutsch besiedelten Gebieten gen Westen wälzten, wurden diese Gebiete schon von den aus Ostpolen vertriebenen Polen besiedelt.

So erzählt Katja Lenßen zwar stellvertretend für ihre Urgroßmutter deren Geschichte, erschafft aber wohl auch mit viel Liebe zu ihrer Heldin eine dichte, atmosphärische Lebensgeschichte, die auch nicht 1947 endet, als die kleine Familie wieder beisammen ist, sondern weiterläuft bis 1982, bis zum Tod Luises. Man erfährt, wie die Heldin und ihre kleine Familie, nachdem sie alles verloren haben, mit ostpreußischer Beharrlichkeit ihr neues Leben anpacken und sich eine neue Existenz aufbauen, aus dem Vorgefundenen das Beste machen und natürlich auch zutiefst erschüttert sind, wenn das Tragische wieder eingreift in ihr Leben.

Das sind die eigentlichen Romane, die Bestand haben werden, gerade dann, wenn ihre Hauptfiguren so lebendig werden wie Luise in Katja Lenßen geglücktem Versuch, die irgendwie immer offen gebliebene Familiengeschichte nun einmal wie eine große, herzliche Parabel auf das Leben zu erzählen. Ihre eigene Geschichte – die Begegnung als Baby mit der Urgroßmutter im Krankenbett – gehört dazu. Und am Ende weiß sie dann auch, warum die Geschichte immer noch rumorte im Familienkreis. Jetzt wird sie auf andere Weise weitergegeben – als Buch, eines der wichtigsten und emotionalsten im Programm des Einbuch-Verlages.

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