Sie spricht selbst von "einem Logbuch der Ereignisse meines Lebens" - Katja Winkler, studierte Germanistin, Sprachlehrerin in Integrationskursen. Angefangen hat sie ihr Logbuch 1989. "Erst als die DDR sich auflöste und die Mauer fiel, begann ich Gedichte zu schreiben. Ich war verliebt, und es war mir, als hebe sich ein Betondeckel von meiner Seele. Da war ich Ende Zwanzig." "Die besten Jahre" stecken jetzt in einem Buch.
Gedichte steht drauf, obwohl auch Logbuch hätte drauf stehen können. Gedichte sind ein formbarer Stoff, aus dem man Viele machen kann. Wenn man’s kann. Sie setzen das Wissen um Sprache voraus und das GefĂĽhl fĂĽr den genauen Ton. Sie sind die persönlichste Art, Sprache zu formen. Das wissen nicht alle, die Gediche scheiben. Manche glauben, schon Form und Sprachezerfetzen wĂĽrden reichen. Tun sie nicht. Ohne GegenĂĽber funktionieren Gedichte nicht. Wer den Leser nicht erreicht, erreicht niemanden.
Auch wenn die Texte anfangs nur für den eigenen Dialog geschrieben wurden, im Zwiegespräch mit der Welt, dem Erlebten, den eigenen Gefühlen. Damit fängt Poesie an: der Fähigkeit, offen zu sein für die leisen Töne, die Zwischentöne, die Widersprüche und das Beeindruckstsein von der Welt.
Das ist bei Katja Winkler alles da. Mit Herzenslust und Lebensfreude. Und: typisch weiblich. Was keine Klassifizierung ist. Frauen schreiben anders. Beherzter, könnte man sagen, mit viel weniger Scheu vor dem lyrischen Moment, der eigenen Emotion, dem Bekunden eigener Befindlichkeit. Aber auch rauhbeiniger, burschikoser, wenn’s sein soll. Und manchmal muss es sein. Denn anders kommt man der Welt und ihrer von Männern verursachten Oberflächlichkeit oft nicht bei. Das klingt auch bei Katja Winkler an, die durchaus in ihren frĂĽhen Texten die fordernde Sehnsucht nach Ehrlichkeit durchblitzen lässt, die man von den besten Lyrikerinnen der DDR kennt. Von Eva Strittmatter bis zu Sarah Kirsch oder Bettina Wegner. Sie haben in der lyrischen Form die moralischen MaĂźstäbe gesetzt, an denen sich eine ganze deformierte Gesellschaft immer wieder messen lassen musste: die menschlichen, irdischen MaĂźstäbe. Was fĂĽrs eigene Leben gilt, sollte auch fĂĽr die Gesellschaft gelten, in der man lebt – oder frau. Was aufs Selbe hinausläuft.
Und Katja Winkler wird nicht die einzige sein, die den Mauerfall auch als emotionale Befreiung erlebt hat. Mancher hat die DDR genau so erlebt: als eine vermauerte Welt, in der einem die Sprache wegblieb.
Und so sprudelt es aus den Texten Katja Winklers geradezu heraus, nimmt sie ihr Leben und Lieben in die Hand und wird dabei auch ganz elementar, wenn es sein muss. Liebe ist Liebe und Leben braucht manchmal einfach die pure Lust. Denn abwärts geht es ja doch immer fix, einmal pro Woche zumindest. Der Weltschmerz lauert und die Autorin ringt mit sich: Ist das ihre Natur? Oder ist es doch der Preis dafür, wenn man Gefühle zulässt?
Augenscheinlich ist Leben nicht nur als Friede, Freude, Hosianna zu bekommen. Freiheit ĂĽbrigens auch nicht. Diese neue, wagbare Freiheit. Eine offene, bereisbare Welt ist nur ein Aspekt davon. Das muss man erst zulassen und bestimmt spricht Katja Winkler vielen, die das nach 1989 auch so erlebten, aus dem Herzen. Erst recht, als sie merkt, dass die Freude am Leben leider nicht schĂĽtzt vor den Malaisen der Welt. Und so kippt ihr Logbuch mittendrin erst in leichte Trauer, GefĂĽhle des Abschieds und dann die voller Frust und Zorn und Lebenswille gepackten Logbuch-Einträge aus dem Krankenhaus und der langen, quälenden Krebstherapie. Doch dazu ist die Autorin zu lebenslustig, dass sie sich davon jetzt unterkriegen lässt. Und so gibt es – da lässt die ErschĂĽtternde auch alle ZĂĽgel fahren – ein groĂźes, wĂĽtendes, grimmiges Angst-Gedicht. Wie ein Kulminationspunkt. Wer traut sich denn, in einem Gedicht alles herauszuschreien? Darf man das?
Darf man. Muss man. Der “schwarze Gesell” muss beim Namen genannt werden, wenn man ihn kleinkriegen will. Nur was man benennt, wird auch greifbar. Und das Logbuch wird zum Therapiebuch, zu einem Buch der selbsterkämpften Wiederauferstehung: “Du lebst noch?” Da muss man auch den Weggefährten manchmal die noch immer lebendige Sehnsucht nach Nähe und Liebe ins Gesicht sagen. Oder Berlin, der “alten Vettel”, dass man diese ruinöse Hure Stadt noch immer liebt. Eine Stadt als Vertraute in einem aus den Fugen geratenen Leben, das sich erst wieder sortieren muss und in dem die Angst gebändigt werden muss, “dem Angsttier das Fell” ĂĽber die Ohren ziehen.
Und am Ende schlieĂźt sich der Bogen, der am Anfang nicht extra erwähnt wurde: Da geht der Blick zurĂĽck in die Zeit, als die schmetternden Lieder noch Kindheit und Jugend ĂĽbertönten, wild-fremde Texte aus der “kaputten Jukebox”, die die Genesene nun zurĂĽckdenken lassen an die verklemmte Zeit. Jetzt kann sie davon reden und zum Neujahrsmoment feststellen: “Ich bin immer noch …” Und das GefĂĽhl ist noch da, der Wunsch, ein GlĂĽck zu erfahren. Oder muss man es nur ergreifen, wo man es findet, auch weil man so langsam erfährt, dass man selbst ja nur Teil einer langen Perlenkette von Geschlechtern ist, Vaters Tochter sowieso, im Abschied nun von den Alten, die selbst mit Trauer gehen, weil sie wissen, dass sie uns zurĂĽcklassen.
Das darf schon persönlich werden. Wer’s liest, begegnet sich womöglich, findet sich in den RĂĽckblenden wieder, den zuweilen verwirrenden Begegnungen mit der Einsamkeit und der Natur. Und den längst vergessenen Schrecken der Kindheit. Ein wenig klingt das auch abgeklärt, einsortiert endlich. Nach all dem bergauf und bergab. Irgendwann ruft niemand mehr “Schneller!” Da spätestens muss man selbst entscheiden, welchen Weg man noch gehen will. Und da es ein Logbuch ist, ist jedes Gedicht auch ein Versuch, die Position neu zu bestimmen. Wie das so ist in einem richtigen Leben, in dem man nie so recht weiĂź, welches die besten Jahre waren, sind oder vielleicht sein werden. HeiĂźt ja nicht, dass das letzte Gedicht der Schlusspunkt ist. Nur fĂĽr diesmal. Das Schiffchen ist noch auf Kurs.
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